Wahlsiegerin Michelle O'Neill:Sie träumt von einem vereinigten Irland

Wahlsiegerin Michelle O'Neill: Wahlsiegerin: Michelle O'Neill.

Wahlsiegerin: Michelle O'Neill.

(Foto: PAUL FAITH/AFP)

Nach ihrem Wahlsieg mit der Sinn-Féin-Partei kann Michelle O'Neill die nächste Regierungschefin in Nordirland werden. Doch ob es in Belfast eine neue Exekutive geben wird, ist völlig offen.

Von Alexander Mühlauer, London

Die Auszählung der letzten Stimmen dauerte bis spät in die Nacht, aber schon am Samstagabend war klar: Michelle O'Neill hat es geschafft. Erstmals in der Geschichte Nordirlands ist die republikanisch-katholische Sinn Féin stärkste Kraft im Parlament, und das mit ihr als Spitzenkandidatin. O'Neill hat nun das Anrecht, First Minister zu werden, so nennt man in Nordirland die Regierungschefin. Doch ob es in Belfast überhaupt eine neue Exekutive geben wird, ist völlig offen.

Und so stand O'Neill am Tag ihres Erfolgs vor den Fernsehkameras und tat das, was sie wohl noch länger tun muss: Sie rief die anderen Parteien zur Kooperation auf. Denn darauf ist sie angewiesen. Gemäß dem Karfreitagsabkommen von 1998, das den Nordirland-Konflikt beendete, müssen sich die jeweils größten Parteien aus beiden konfessionellen Lagern auf eine Zusammenarbeit in einer Einheitsregierung einigen. Das Problem ist nur: Die größte unionistisch-protestantische Partei DUP weigert sich, einer Regierung beizutreten - aus Protest gegen den Brexit-Sonderstatus von Nordirland.

O'Neill kann daran nichts ändern, und so wirkte sie etwas hilflos, als sie sagte: "Lasst uns zusammenarbeiten." Die Bürgerinnen und Bürger hätten dafür gestimmt, dass die Exekutive schnell handle und sich um die Probleme der Menschen kümmere. Für O'Neill sind das vor allem die steigenden Energiepreise, das marode Gesundheitssystem und die akute Wohnungsnot. Aus ihrer Sicht darf es nicht sein, dass die Politik sich einen Streit leistet, während viele Menschen kaum ihre Rechnungen und Einkäufe bezahlen können. Sie versprach also, gleich an diesem Montag mit der Arbeit an einem Regierungsprogramm zu beginnen. O'Neill hat damit Erfahrung. Sie war bereits zwei Jahre lang stellvertretende First Minister, bis die DUP die Regierung im Februar platzen ließ.

Die Sinn-Féin-Politikerin steht nicht nur wegen ihres Alters für eine neue Generation ihrer Partei. O'Neill ist 45 und will die blutige Vergangenheit endgültig hinter sich lassen. Doch so einfach ist das nicht. Sinn Féin war einst der politische Arm der Irisch-Republikanischen Armee (IRA). Auch in O'Neills Familie gab es Sympathisanten; ihr Vater Brendan Doris, genannt Basil, war IRA-Aktivist und musste eine Zeit lang ins Gefängnis. Sein Ziel war die Vereinigung Nordirlands mit der Republik Irland. Dafür kämpfte er, auch später im Gemeinderat im Dungannon Council.

Von Belfast fährt man mit dem Auto eine gute Dreiviertelstunde nach Dungannon. Dort ist Michelle O'Neill aufgewachsen, dort ging sie zur Schule und begann eine kaufmännische Ausbildung, die sie allerdings abbrach. Sie wollte lieber Politik machen. Mit Erfolg: 2007 wurde sie erstmals ins nordirische Parlament gewählt. Auf die Arbeit in diversen Ausschüssen folgte eine Zeit als Ministerin für Landwirtschaft, später für Gesundheit, schließlich dann das Amt der stellvertretenden Regierungschefin.

O'Neill fordert eine Debatte über die Frage eines "United Ireland"

O'Neill hat den Ruf einer durchsetzungsstarken Frau, die sozialdemokratische Politik macht und ihren Traum vom vereinigten Irland nicht aufgegeben hat, schon gar nicht jetzt. Am Wochenende forderte O'Neill eine breite gesellschaftliche Debatte über die Frage eines "United Ireland". Im Wahlkampf hatte sie das Thema weitgehend ausgeblendet. Doch nun ist es wieder da. Und damit auch die Erinnerungen an Bilder, die Nordirland noch immer spalten. Und die O'Neills politische Gegner nicht vergessen haben.

Zum Beispiel die Bilder der Beerdigung des IRA-Veteranen Bobby Storey im Sommer 2020. Wegen Corona hätten damals nur 30 Personen teilnehmen dürfen, doch viele setzten sich darüber hinweg, auch Michelle O'Neill. Rücktrittsforderungen wies sie damals zurück. Was allerdings blieb, ist der Eindruck, dass sie die Schatten der Vergangenheit noch lange nicht loswerden dürfte.

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