Im Profil:Kristina Schewtschenko

Ukrainerin an der Front, die es schafft, dass ihre Stadt bald New York heißt.

Von Frank Nienhuysen

Es ist Mittag, und Kristina Schewtschenko hat heute schon drei Geschosse fliegen gehört. "Innerhalb einer halben Stunde", erzählt sie am Telefon. Die Front in der Ostukraine ist sechs Kilometer entfernt. Aber schon bald wird die junge Frau in New York leben, sie muss dafür nicht einmal umziehen. Wenn das auch seltsam klingt so nahe an der Konfliktlinie, sie hat dafür gekämpft. Den Krieg wird sie dann eben von New York aus hören.

Kristina Schewtschenko ist 27, Lehrerin für Ukrainisch und Literatur in der Industriestadt Nowgorodska, 11 000 Einwohner. Sie hat sich mit ihrer Jugendorganisation dafür eingesetzt, dass ihr ukrainischer Heimatort bald New York heißen wird. Kürzlich war sie in Kiew und hat dort vor einem Parlamentsausschuss geworben und überzeugt. Der Ausschuss hat der Umbenennung zugestimmt. Der ukrainische Außenminister Dmitrij Kuleb hat sich schon einen Spaß gegönnt und gesagt, dann könne ja die nächste UN-Versammlung im ukrainischen New York stattfinden. Ein Industriestädtchen, das sich aufspielen will als Metropole, die es doch nie sein wird? Nein, sagt Kristina Schewtschenko. "Es geht um historische Gerechtigkeit." Und auch um Zuversicht, um Aufbruch, um den Willen, etwas zu verändern im recht tristen Alltag.

Schewtschenko erzählt, dass deutsche Einwanderer, Mennoniten, im 19. Jahrhundert die Siedlung gründeten und New York nannten. Zwei Versionen kursieren, warum. Die eine: Der mächtige Inhaber einer Mühle war zuvor in Amerika gewesen und schwärmte davon. Die zweite: Ein anderer Unternehmer hatte eine Amerikanerin zur Frau mit großem Heimweh. 1951 benannten die Sowjets jedenfalls New York um in Nowgorodska. "Sie waren gegen den Namen New York, weil sie gegen Amerika waren", sagt Schewtschenko.

Als Kind hat ihre Großmutter ihr einmal davon erzählt, dass sie früher in New York gewohnt habe. Die kleine Kristina fragte, warum sie, ihre Oma, denn aus Amerika zurück in die Ukraine gekommen sei. Seitdem wirbelten in ihrem Kopf die New-York-Fantasien. Seit dem Krieg in der Ostukraine trieb Schewtschenko den Wunsch voran, überzeugte Freunde, Bürger, Politiker in Kiew. Stimmt das Parlament zu, und daran besteht kaum Zweifel, wird sie in New York leben. Im ukrainischen. Es ist ihr Traum im Schatten des Kriegs.

Kristina Schewtschenko hofft, dass es dann leichter sein wird, die Industriestadt zu entwickeln, Investoren zu interessieren. Bisher gibt es nicht viel: Ein Phenolwerk, von dem die Stadt abhängt, zwei Cafés. Das Krankenhaus? "Eine Katastrophe", sagt sie. "Seit der Sowjetzeit ist es nicht erneuert worden." Auch die Straßen müssten repariert werden. Ansonsten packt die Lehrerin selbst an, damit das Leben bunter wird. Sie organisiert Feste, Tanzkurse, Aufräumaktionen am Friedhof.

Schewtschenko sagt, es gehe ihr bei der Umbenennung um die Stadtgeschichte, nicht um einen Vergleich mit dem großen Big Apple und seinem Glanz, von dem etwas abfallen soll auf die Düsternis an der Front. Und doch schwingt Sehnsucht mit. "All dies verbinde ich mit diesem Namen: Perspektive, Freiheit, Möglichkeiten", sagt sie. In ihr Facebook-Profil hat Kristina Schewtschenko ein Foto vom nächtlichen Sinatra-New-York hochgeladen. "Es wäre toll, wenn wir Bruderstädte werden könnten", sagt sie. Ob sie schon einmal in New York City war, in dem am Hudson? Nein, sagt sie, aber sie würde es gerne besuchen. Nicht leicht bei ihrem Verdienst als Lehrerin: umgerechnet 250 Euro im Monat.

Immerhin sieht sie daheim ersten sanften Wandel: Noch nichts, das strahlen würde. Aber es gibt nun eine Tankstelle, über der der Schriftzug "New York" prangt. Eine "Bakery New York". Und eine Jugend, die zuversichtlich und stolz sei angesichts des wohl künftigen Städtenamens. Ihren größten Wunsch kann Kristina Schewtschenko allerdings nicht beeinflussen. Dass im neuen New York der Krieg aus ihrem Leben verschwindet.

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