Süddeutsche Zeitung

Glaube:Es ist Zeit, die reflexartige Abwehrhaltung zu überwinden

In Köln hat am Freitag erstmals der Muezzin gerufen. Das erregt seitdem die Gemüter, weil das muslimische Leben nicht mehr im Hinterhof stattfindet. Dabei sollte das Gegenteil der Fall sein.

Kommentar von Dunja Ramadan

Zwei Minuten 36 Sekunden und nur 60 Dezibel laut: Am vergangenen Freitag hat in Köln erstmals der Muezzin gerufen. Das hat am Wochenende für scharfe Kritik gesorgt. Der Muezzinruf stehe für das Fremde, sei eine Machtdemonstration des politischen Islam und deshalb brandgefährlich, konnte man hierzulande lesen. Wenn religiöse Praktiken im öffentlichen Raum sicht- und hörbar werden kann das Menschen irritieren. Das darf es auch.

Aber vielleicht sollte man sich zuvor bestimmte Fakten bewusst machen: In Deutschland gibt es etwa 2800 Moscheen, der Großteil davon ist entweder in Hinterhöfen, Bahnhofsnähe, Gewerbegebieten oder auch gerne mal neben Kläranlagen untergebracht. Die Predigten sind selten auf Deutsch, die Imame arbeiten entweder ehrenamtlich oder kommen aus dem Ausland. Solange das muslimische Leben in Deutschland nahezu unsichtbar bleibt, wird es weitgehend toleriert.

Das ist ähnlich wie mit dem Kopftuch, Achtung Klischee, aber da ist etwas Wahres dran: Wenn Frauen abends leere Bürohäuser oder Amtsstuben putzen, ist das Kopftuch kein Problem. Aber wenn sie Lehrerinnen oder Richterinnen werden wollen, dann ist der Aufschrei groß. Dabei ist es doch so: Sichtbarkeit bedeutet Transparenz, Sichtbarkeit bedeutet Angekommensein. Und in Deutschland herrscht Religionsfreiheit - und der Adhan, der Ruf zum Gebet, gehört nun mal zur Glaubenspraxis dazu. Da man sich aber in Europa befindet, sollte das in einer gewissen Lautstärke und keinesfalls zu jeder Uhrzeit, etwa zum Morgengebet, stattfinden.

Und wenn die Empörung nur daran liegt, dass es sich (wie in Köln) um eine von der türkischen Regierung finanzierte Ditib-Moschee handelt, sollte man sich zuvor eingehend mit den diversen Organisationsstrukturen von muslimischen Gemeinden beschäftigen: Seit Jahrzehnten finanzieren sich Moscheen aus Spenden, sie erhalten keine staatlichen Zuschüsse. Finanzierung aus dem Ausland ist für viele ein notwendiges Übel, um zu überleben.

Und selbst wenn die Ditib Träger der Moschee ist, besucht wird sie von Muslimen jeglicher Couleur. Moscheen sind Gotteshäuser, die von wenigen getragen, aber von einer zunehmenden Zahl an Gläubigen genutzt werden. Es ist deshalb an der Zeit, dass die reflexartige Abwehrhaltung überwunden wird, da sie dem für alle gleichermaßen geltenden Grundgesetz widerspricht.

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