Da sitzt ein Mann in einer lauen Sommernacht auf seiner Terrasse, in seinem Heimatdorf, er raucht noch eine vor dem Schlafengehen. Drinnen bringt seine Ehefrau den Enkel zu Bett. Eine Szene - so privat, so voller Geborgenheit, wo könnte man sich sicherer fühlen? Und doch schlug genau hier der Mörder zu. Genau hier wurde am 1. Juni 2019 der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke von einem Neonazi erschossen - nur weil er sich für die Werte unserer Gesellschaft eingesetzt hatte. Er hatte versucht, Flüchtenden eine Unterkunft zu verschaffen. Mehr nicht.
Der Mord an Lübcke war ein Einschnitt. Nicht, dass es nicht schon vorher rechtsradikal motivierte Anschläge gegeben hätte. Allein der NSU hat zehn Mal zugeschlagen, quer durch Deutschland. Er tötete, neben einer Polizistin, gezielt Männer mit türkischen Wurzeln. Die Taten des NSU erschütterten das Land - aber blonde, blauäugige Deutsche mussten sich dadurch nicht persönlich bedroht fühlen. Sie konnten darauf vertrauen, nicht das Ziel dieser Rassisten und Ausländerhasser zu sein. Das galt bis zum 1. Juni 2019.
Seit Lübcke ist gewiss: Der Terror kann einen überall ereilen
Seit dem Mord an Walter Lübcke hat sich das geändert. Seitdem ist klar, dass jeder im Visier stehen kann, der für diese Demokratie eintritt: nicht nur die Kanzlerin, der Rechtsradikale mit dem Tod am Galgen drohen, oder die Kölner Oberbürgermeisterin, die für ihr Engagement für Flüchtende niedergestochen wurde, Gott sei Dank hat sie überlebt. Hass und Hysterie sind so stark gewachsen, dass jeder zum Ziel von Extremisten werden kann: die Ingenieurin, die sich auf der Baustelle rassistische Witze verbittet, die Richterin, die die Kündigung eines Neonazis für rechtens erklärt, der Kollege, der dem Corona-Leugner im Büro eine Populismus-Pause empfiehlt. Seit Lübcke ist gewiss: Der Terror ist nicht mehr weit weg, er kann einen auf der eigenen Terrasse ereilen.
Soll man deswegen in Zukunft seine Terrasse meiden? Natürlich nicht. Soll man deswegen nicht mehr seine Arbeit tun, nicht mehr für die Demokratie eintreten? Natürlich nicht. Im Gegenteil.
Als nach den Anschlägen von Islamisten im November 2015 ganz Paris Angst hatte vor weiteren Morden, setzten sich die Franzosen zum Trotz in die Straßencafés. Sie ließen sich ihre Freiheit, ihre Lebensart nicht nehmen. Ein starkes Zeichen.
Angst macht schwach - ihr zu trotzen, macht stark
In Deutschland dagegen schleicht sich seit einiger Zeit eine eigenartig ängstliche Haltung ein. Da wird alles, was selbstverständlich ist, als mutig bezeichnet. Da wird ständig nach der Angst gefragt, die man doch sicher bei seiner Arbeit haben müsse - egal, ob der Richter urteilt oder die Journalistin berichtet. Es klingt, als würde man in einem autoritären Staat leben, in dem Zivilcourage gefährlich wäre. Und es klingt manchmal wie eine Entschuldigung dafür, dass man selbst nicht den Mund aufmacht und lieber in seiner Komfortzone bleibt.
Aber Angst können wir uns nicht erlauben. Angst macht schwach, erst ihr zu trotzen, macht stark. Deswegen reicht es nicht, dass der Mörder von Walter Lübcke nun zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Man muss eine Lehre ziehen aus diesem ersten rechtsradikalen Mord an einem deutschen Politiker seit dem Zweiten Weltkrieg. Diese Lehre kann nur sein, den Feinden der Demokratie zu widersprechen, überall, immer. Damit sie sich nicht als Handlanger der schweigenden Mehrheit fühlen. Das hat nichts mit Mut zu tun. Es gehört sich einfach.