Russland:Die besten Jahre

Lesezeit: 4 min

Der Solowezki-Stein in Moskau, 1990, ein Denkmal vor der KGB-Zentrale: Damals durfte der Opfer sowjetischen Terrors gedacht werden, vorangetrieben durch die Menschenrechtsorganisation "Memorial". Heute gilt diese in Putins Russland als feindliche Organisation. (Foto: Imago/Alexander Makarov/Imago/SNA)

Eine Hommage an den Menschen Michail Gorbatschow, der in nur sechs Jahren die Welt veränderte und Russland die Chance auf Freiheit gab. Nun ist sie vertan.

Gastkommentar von Irina Scherbakowa

Irina Scherbakowa ist Historikerin und Vorstandsmitglied der russischen Geschichts- und Menschenrechtsorganisation Memorial International, die Ende 2021 von einem Moskauer Gericht aufgelöst wurde. Sie lebt jetzt in Deutschland.

Als ich im März Russland verlassen habe, musste ich darüber nachdenken, welch unerwartetes Glück uns im März 1985 beschieden war, als die sechs Jahre unter Gorbatschow begannen. Es waren die besten Jahre meines Lebens.

Wann spürte ich zum ersten Mal, dass mit seiner Wahl zum Generalsekretär des Politbüros sich wirklich etwas zu ändern begann? Zunächst machte es sich nur an Kleinigkeiten bemerkbar. Alle sahen, dass der neue Generalsekretär eine Frau hatte, die ganz anders war als die Ehefrauen der früheren sowjetischen Staatschefs. Raissa Gorbatschowa wirkte modern, elegant, und sie nahm nicht den Platz ein, der den Ehefrauen der Sowjetführer zugedacht war: im Schatten ihrer Männer, völlig gesichtslos.

Newsletter abonnieren
:SZ am Sonntag-Newsletter

Unsere besten Texte der Woche in Ihrem Postfach: Lesen Sie den 'SZ am Sonntag'-Newsletter mit den SZ-Plus-Empfehlungen der Redaktion - überraschend, unterhaltsam, tiefgründig. Kostenlos anmelden.

Schon während einer seiner ersten Reden überraschte er alle mit den Worten: "Als wir mit Raissa Dostojewski lasen ..." Es waren zwei Dinge erstaunlich: dass er es unterstrich, dass sie gemeinsam etwas lasen - und nicht etwa Puschkin, sondern Dostojewski. Unvorstellbar! Er nahm sie nicht nur überall mit hin, sondern sie war eindeutig auch über alles informiert.

Diesmal beschleunigte sich das Leben tatsächlich

Dass genau diese Beziehung zu seiner Frau viele gegen ihn stimmte, war ein Symptom für den Traditionalismus und die Rückständigkeit der sowjetischen Gesellschaft, für mich dagegen war es eines der ersten positiven Signale. Und sehr bald kamen weitere hinzu. Schon nach wenigen Wochen sprach Gorbatschow erstmals über "Beschleunigung" und "Perestroika". Man hatte in der Sowjetunion längst aufgehört, auf Parolen zu achten, aber diesmal beschleunigte sich unser Leben tatsächlich - auch wenn wir uns nicht vorstellen konnten, bis zu welchem Grad.

Das hieß nicht, dass der neue Parteichef - vor allem zu Beginn -ganz auf die alten Methoden verzichtet hätte. Er ließ das Reaktorunglück von Tschernobyl verschweigen, ließ zu, dass in Vilnius und Tiflis Gewalt angewendet wurde gegen die Bestrebungen zur Unabhängigkeit. Er glaubte bis zuletzt an die Reformierbarkeit des kommunistischen Regimes und der KPdSU.

Und doch - wie es Gorbatschow sagte: "Der Prozess hat begonnen!" Je mehr Abstand ich heute zu diesen Ereignissen habe, in umso besserem Licht erscheint mir Gorbatschow. Er hat gegen Ende seiner sechs Jahre an der Macht mit seiner Unentschlossenheit und dem Aufschieben von Reformen viele enttäuscht. Aber er war der Katalysator, der den Zusammenbruch eines Systems ermöglichte, das zwar altersschwach war, aber immer noch gewisse Reserven besaß. Hätte es länger existiert, wäre sein Zusammenbruch möglicherweise sehr viel dramatischer gewesen.

"Man ruft Sie an!"

Im Winter 1986 holte Gorbatschow den Dissidenten Andrej Sacharow aus der Verbannung zurück. KGB-Mitarbeiter waren in dessen Wohnung in Gorki gekommen und hatten mit den Worten "Man ruft Sie an!" ein Telefon angeschlossen. Am nächsten Tag war Gorbatschow am Apparat. Sacharow forderte von ihm die Freilassung aller politischen Häftlinge, und schon bald waren mehr als 100 Menschen frei.

Die Veränderungen wurden vor allem in der Presse deutlich, als das Schlüsselwort der Perestroika auftauchte: "Glasnost". Die Zensur ließ deutlich nach, erste scharfe und kritische Artikel erschienen, und alle diskutierten darüber. Bücher wurden veröffentlicht, die früher verboten gewesen waren. Anfang 1988 hörte ich von einer Gruppe Aktivisten, die in Moskau Unterschriften für die Errichtung eines Denkmals für die Opfer des politischen Terrors sammelte. Seit Stalins Tod waren 35 Jahre vergangen, aber nirgends im Land gab es ein Denkmal, nicht einmal eine Gedenktafel, die an die Opfer erinnerte. Es ging darum, die Tür zu dieser dunklen Vergangenheit zu öffnen.

Es war an der Zeit, das aufzudecken, was so viele Jahre lang hinter Mauern aus Schweigen und Lügen verborgen gewesen war. Die kleine Gruppe von Aktivisten wuchs zu einer richtigen Bewegung: Sie erhielt den Namen "Memorial", und bei der Gründungskonferenz 1989 wurde Andrej Sacharow zum Vorsitzenden der Organisation gewählt.

Die DDR als eine der letzten Bastionen

Bei Gorbatschow wurde nicht nur die Mauer des Schweigens, sondern die des Kalten Krieges gebrochen. Polen, Ungarn, die Tschechoslowakei - das sozialistische Lager zerfiel ganz offensichtlich. Die DDR war eine der letzten Bastionen dieses maroden Gebildes. Umso unglaublicher war es, als Gorbatschow auf seine etwas unklare Art, aber doch offen den Satz aussprach, dass "die Berliner Mauer von Menschen gebaut worden ist".

Ich konnte es kaum glauben. Hatte er das wirklich gesagt? Natürlich hatten Menschen die Mauer gebaut, wer denn sonst? Aber wir waren nun einmal daran gewöhnt, den Sinn zwischen den Zeilen zu lesen, das Ungesagte hinter dem Gesagten herauszuhören. Und in diesem Moment hieß das im Umkehrschluss, dass sie nicht für die Ewigkeit gebaut war, sondern dass Menschen sie wieder abtragen konnten. Gorbatschow ist zu verdanken, dass dieses "für die Ewigkeit" nun platzte, das in unseren Köpfen verankert war und für das ganze kommunistische System galt. Niemand von uns konnte sich jedoch vorstellen, dessen Zusammenbruch jemals zu erleben.

Sein engster Mitarbeiter, Anatolij Tschernjajew, schrieb im November 1989 in seinem Tagebuch: "Die Berliner Mauer ist gefallen. Eine ganze Epoche des ,sozialistischen Systems' geht zu Ende. Das hat Gorbatschow getan. Er ist wirklich ein Großer. Er hat den Strom der Geschichte erkannt und hat geholfen, ihn ins richtige Bett zu leiten."

Was bleibt, ist die Erinnerung

Dieser Strom der Geschichte brachte dann nach zwei weiteren Jahren Gorbatschow um seinen Posten. Danach hatte er noch ein langes Leben vor sich. Schon 1999 verlor er seine Frau. Er musste erleben, dass er gehasst und zum Schuldigen dafür gemacht wurde, dass die Sowjetunion zerfallen war, das sozialistische Lager, dass er dem Westen all dies "geschenkt" habe. Er musste mitansehen, was aus seiner Vision von Europa als "unser gemeinsames Haus" geworden ist, wie alle errungene Freiheiten wieder zurückgenommen werden.

Manche haben jetzt geschrieben, dass sein Tod ein Abschied von der ganzen Epoche bedeutet, aber diese Epoche ist schon längst vorüber. Was bleibt, ist die Erinnerung an die Chancen, die uns ein einzelner Mensch gab und die man vertan hat. Und das war die Chance der Freiheit.

© SZ/jkä - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusZum Tod von Michail Gorbatschow
:Vom unerfüllten Traum, eine Diktatur zu demokratisieren

Er hat den Kalten Krieg beendet, die Wiedervereinigung ermöglicht - und sich selbst als Führer eines Weltreichs abgeschafft. Nun ist Michail Gorbatschow im Alter von 91 Jahren gestorben.

Von Lars Langenau

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: