Was eine Autokratie ausmacht oder was sie verhindert, ist schwer zu fassen. Studentenproteste wie derzeit in der Türkei werden einen Präsidenten, der seinen Herausforderer hat inhaftieren lassen, kaum beeindrucken. Andererseits aber scheint es in dem Land noch einen Faktor zu geben, auch wenn er vielleicht vage klingen mag: die Macht der öffentlichen Meinung. Außerdem so etwas wie Linien, die auch der Staatschef bisher nicht überschritten hat. Weil er um das Risiko weiß, das er damit einginge.
Der Istanbuler OB Ekrem İmamoğlu wurde in keine Strafkolonie gebracht, wo man seinen Tod fürchten müsste. Er befindet sich in einem Gefängnis, wo er wohl ordentlich behandelt wird und Besuch von seiner Familie, von Anwälten und Parteifreunden bekommt. Bei der Anhörung am Freitag konnte er eine politische Rede halten, die bei den Türkinnen und Türken ankam. Er ist jetzt eine Art Stimme aus dem Off, die Recep Tayyip Erdoğan verfolgt. Der hat İmamoğlu verhaften lassen, stummschalten konnte er ihn nicht.
Der Präsident hat sich übernommen
Erdoğan hat sich schon mit İmamoğlus Verhaftung übernommen, er hat die Reaktion unterschätzt. Der Gegendruck der Menschen verhindert, dass er noch weiter geht. In der vollendeten Autokratie könnte er İmamoğlu isolieren lassen, in der Türkei indes hat er die Wahl: Belässt er ihn in Haft, hat er es mit einem Gegner zu tun, dessen Schicksal die Leute zum Widerstand motiviert. Oder er lässt ihn irgendwann frei. Dann hat er einen Nachfolger.