Freiheitsrechte:Zuerst gegen die einen, dann gegen alle

Freiheitsrechte: Es gibt sie auch in Russland, und im Sommer 2017 sah man sie noch auf den Straßen von Sankt Petersburg der Polizei trotzen: LGBTQ-Personen und ihre Unterstützer.

Es gibt sie auch in Russland, und im Sommer 2017 sah man sie noch auf den Straßen von Sankt Petersburg der Polizei trotzen: LGBTQ-Personen und ihre Unterstützer.

(Foto: Olga Maltseva/AFP)

In Russland sowieso, aber teils auch im Westen: Der Staat will den Menschen wieder vorschreiben, wen sie lieben dürfen und wen nicht. Wer meint, dies richte sich ausschließlich gegen Homosexuelle oder Transpersonen, irrt gewaltig.

Kommentar von Kia Vahland

Im Westen haben Rechtspopulisten und Autoritäre Zulauf; bei Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine geht es um die Zukunft mindestens des Kontinents, wenn nicht der Welt - doch die europäischen Gesellschaften, allen voran die deutsche, reagieren auf die Systemkonkurrenz von Autokratien und Demokratien immer noch seltsam gleichmütig.

Sicher, Angst macht sich breit, vor Energiemangel, einer Rezession, einer Eskalation des Krieges hinein in Nachbarländer. Auch ehrliche Sorge um die Ukrainerinnen und Ukrainer treibt viele um. Wer aber fühlt sich von Putins Expansionsstreben hierzulande in der privaten Lebensführung bedroht? In der Entscheidung, wen er oder sie verführt, liebt, heiratet und wer davon erfährt? Welche Bücher, Filme, Kunstwerke er oder sie bevorzugt, welche persönlichen Vorbilder die passenden sind?

Lieblingsgegner Putins und rechter Bewegungen: alle, die nicht strikt heterosexuell fühlen und leben

Nun, viele Angehörige der LGBTQ-Community machen sich solche Gedanken. Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transpersonen und andere Queere wissen, wie schnell globale Politik ins Persönliche, Intime durchschlagen kann. Schließlich wird dieser Krieg auch gegen sie geführt - hat doch die russische Propaganda alle nicht lebenslang strikt Heterosexuellen systematisch zu Gegnern "traditioneller Werte" erklärt, zu Symbolfiguren der westlich-liberalen Moderne und ihrer angeblich hedonistischen Verfallsgeschichte.

Als Russen unter seiner Herrschaft auszuwandern begannen, befand Wladimir Putin, verzichten zu können auf Leute, die "Austern und sogenannte Gender-Freiheiten" bräuchten. Und sein religiöser Mentor, der orthodoxe Patriarch Kyrill, rechtfertigte die "Spezialoperation" gegen die Ukraine damit, dass der Westen mit seinen Gay-Pride-Paraden den Menschen im Donbass "mit Gewalt die Sünde" aufzwänge. In Russland dürfen Minderjährige keine Bilder oder Texte sehen, die Homosexualität auch nur anklingen lassen. Gerade versuchen Duma-Abgeordnete, dieses Gesetz auf Erwachsene auszudehnen, womit jeder Anflug gleichgeschlechtlichen Begehrens auch in der Kunst verboten wäre. Es soll nicht nur niemand nicht-heterosexuell oder als Transperson leben. Auch soll niemand es imaginieren.

Im Westen nicht denkbar? Doch, staatliche Übergriffe in individuelle Freiheiten werden längst auch in den USA diskutiert. In Florida ist es bereits verboten, jüngere Schulkinder über andere als heterosexuelle Lebensmodelle zu informieren. Bücher mit Erzählungen von einem Mädchen mit zwei Müttern werden in mehreren Bundesstaaten aus Bibliotheken entfernt. Und als der Supreme Court kürzlich das Abtreibungsrecht aushebelte, kündigte einer seiner Richter an, was er nun auf dem Prüfstand sehe: das Recht auf die gleichgeschlechtliche Ehe, das Recht auf gleichgeschlechtlichen Sex unter Erwachsenen und das Recht zu verhüten. All diese Rechte beruhen auf höchstrichterlichen Urteilen, die mit dem right to privacy argumentieren, dem Recht auf ein Privatleben, in das der Staat sich nicht einmischen darf. Ob es der Demokratischen Partei noch gelingen wird, solche denkbaren Übergriffe auf die persönliche Lebensführung durch Bundesgesetze zu verhindern, ist offen.

Auch Künstler und Literatinnen erstritten einst mit ihren Werken die freie Partnerwahl

Wenn das Recht auf Privates infrage steht, sind LGBTQ-Personen die Ersten, nicht aber die Einzigen, die ihre Freiheit einbüßen werden. Wird einvernehmlicher Sex unter Männern verboten, wie es in Texas bis zum Supreme-Court-Urteil von 2003 der Fall war, so ist es nur ein Schritt, auch Mann-Frau-Paare wieder für Anal- oder Oralsex zu bestrafen - auch solche Regelungen gab es früher. Ein teilweises oder vollständiges Verbot von Verhütungsmitteln zielt sowieso auf Heterosexuelle. Und warum dann nicht auch vorehelichen Sex und Seitensprünge verbieten? Oder alle Romane, die einen wie auch immer ausgelassenen Eros beschreiben? Kunstwerke, die Begehren wecken?

Die Rechte auf individuelle Lebensentscheidungen, auf körperliche Selbstbestimmung, auf Fantasie sind keine Nebenprodukte der humanistischen Moderne. Sie sind ihr Kern. Die freie Partnerwahl - statt der arrangierten Ehe - wurde in langen Kämpfen seit der Renaissance erstritten. Es waren vor allem Künstler und Literatinnen, die es sich nicht nehmen ließen, Gefühle jenseits gerade geltender Normen zu feiern. Auch ihre Ausdrucksformen stehen nun auf dem Spiel - etwa in Ungarn, das Medienmacherinnen und Künstlern verbietet, Jugendliche über die Existenz von Transgender, Männer- oder Frauenpaaren in Kenntnis zu setzen.

Die private und kulturelle Freiheit zu verteidigen, kann nicht allein Sorge derer sein, die Ideologen außerhalb und innerhalb der Demokratien als erste zu Feindbildern erkoren haben. Individuelle Rechte abzuschaffen, erst für LGBTQ, dann für alle: Das ist die totalitäre Agenda. Der Regenbogen aber ist groß und bunt, unter ihm wird auch Platz für jene sein, die jetzt noch meinen, sie kämen schon irgendwie durch, wenn Demokratien einmal kollabieren sollten.

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