Süddeutsche Zeitung

Kunst und Corona:Was auf Dauer zählt

Die Politik muss endlich das kulturelle Leben als Priorität erkennen. Warum nicht Theater, Museen und Buchhandlungen mit klugen Konzepten öffnen, wo die Inzidenzen das erlauben?

Von Kia Vahland

Kunst erwacht erst zum Leben, wenn man sie betrachtet, über sie streitet, anderen von ihr erzählt. Künstler, Musiker, Theaterleute brauchen ein Gegenüber, um ihre Werke entfalten zu können. Eine Schriftstellerin mag ihren Roman allein in einer Waldhütte verfassen, sie weiß doch, dass sie im Erfolgsfall damit durch die Buchhandlungen touren wird. Erst die Aufmerksamkeit des Publikums, dessen Zu- oder Abneigung machen Kunst zur gemeinschaftsstiftenden Angelegenheit. Sie braucht den halböffentlichen Raum, Theater-, Konzert-, Museumssäle, Literaturhäuser und Kinos, in und vor denen man sich austauscht über den Gang der Welt.

Deshalb kann man nicht auf ungewisse Zeit alle Kulturorte schließen und glauben, das sei verkraftbar - ein bisschen "Unterhaltung" weniger, es müssten eben alle Opfer bringen. Wer so redet - und manche Politiker taten dies noch Ende 2020 -, degradiert kulturelle Fragen zu Luxusproblemen und offenbart, nicht willens oder in der Lage zu sein, nachhaltige Prioritäten zu setzen. Der Mensch aber lebt nicht vom Brot allein.

Wenn eines Tages Kaufhäuser zwar wieder geöffnet, aber alle soloselbständigen Künstler pleite sind, die Stadttheater durch sinkende Haushaltszuschüsse kaputtgespart, Museumsstücke eingestaubt, Orchestermusiker zu Kontaktverfolgern umgeschult - dann ist das eine fatale Kulturrevolution; und man möchte nicht wissen, welche Ungeheuer aus diesen Trümmern der Orientierungs- und Sinnlosigkeit auferstehen.

Die Politik biedert sich an den vermeintlichen Volksgeschmack an

Richtig ist: Solange die Fallzahlen steigen und sich eine dritte, exponentiell anschwellende Welle ankündigt, verbieten sich schnelle Öffnungen. Deshalb greift auch die von einigen Wissenschaftlern unterstützte Studie der Sport- und Bühnenveranstalter zu kurz, die fordern, den zweifelslos guten Hygienekonzepten vieler Kulturhäuser zu vertrauen und statt auf Inzidenzwerte lieber auf die Auslastung der Krankenhäuser zu schauen. Nichts ist gewonnen, sollten sich Menschen in der U-Bahn zur Oper zwar nicht schwerstmöglich infizieren, aber reihenweise Long Covid einfangen, jene Begleiterscheinungen der Krankheit, die arbeits- und handlungsunfähig machen können.

Besser wäre es, Inzidenzen als Anreize zu nutzen. Warum sollte die Kunsthalle Emden, ein Lichtblick moderner Kunst, nicht zumindest für Einheimische ohne weite Anreise öffnen, wenn die Infektionszahlen seit längerer Zeit um die 20 liegen und an manchen Tagen kein positiver Test vorliegt? In vielen Regionen mit stabilen Werten ließe sich experimentieren, indem man bald Kultureinrichtungen und, so noch nicht geschehen, Buchläden öffnet, und erst wenn das gut geht auch Geschäfte und Sportanlagen.

Dieses Vorgehen wäre gesundheitlich vertretbar. Die TU Berlin hat herausgefunden, dass ein Supermarkteinkauf doppelt und der Restaurantbesuch fast fünfmal so gefährlich ist wie der Gang in ein mäßig ausgelastetes Theater. Warum also wollen bayerische Politiker nun statt der Museen und Konzertsäle Baumärkte und Nagelstudios öffnen und fantasieren schon vom frischen Bier im Gasthaus? Weil sie sich an einen vermeintlichen Volksgeschmack anbiedern wollen und nicht wissen, was auf Dauer zählt. Das aber wäre jetzt die Aufgabe der Politik: die Kulturlandschaft in ein Morgen retten, in dem Ideen für ein Übermorgen gebraucht werden.

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