Lübcke-Prozess:Ein Feld aus Hass und Aggression

Mordfall Lübcke

Seit Dienstag steht der mutmaßlicher Mörder von Walter Lübcke vor Gericht. Ihm galt kassels Regierungspräsident als "Volksverräter". (Archivbild des Trauergottesdienstes)

(Foto: dpa)

Politische Attentate passieren nicht einfach so. Sie sind Folge eines gesellschaftlichen Klimas, das ihnen den Boden bereitet.

Kommentar von Detlef Esslinger

Viele Jahre lang hatte es in Deutschland keine Attentate auf Repräsentanten des Staates mehr gegeben; seit 2015 wurden jedoch mehrere verübt, alle auf Kommunalpolitiker. Henriette Reker, die heutige Oberbürgermeisterin von Köln, und Andreas Hollstein, der Bürgermeister von Altena, haben überlebt. Walter Lübcke hingegen, der Regierungspräsident von Kassel, hatte keine Chance. Seit Dienstag steht sein mutmaßlicher Mörder vor Gericht. Ihm galt Lübcke als "Volksverräter" - womit schon viel dazu gesagt ist, wie diese Tat möglich war und welche Konsequenzen aus ihr zu ziehen sind: für womöglich künftig Betroffene, für den Staat, für die Gesellschaft.

Einer der Unterschiede zwischen allgemeiner und politisch motivierter Kriminalität ist, dass der gewöhnliche Kriminelle in der Regel um die Verwerflichkeit seines Tuns weiß. Er nimmt die Bestrafung als Berufsrisiko hin. Der politisch motivierte Kriminelle hingegen sieht sich getragen von einem Milieu, das er entweder für eine Art Avantgarde oder gar fürs gesamte Volk hält. Nur so kann man ja überhaupt auf die Idee kommen, in einem anderen einen Volksverräter zu sehen; nur so können in jemandem die Anmaßung und der Fanatismus reifen, sich zum (Blut-)Richter zu erheben. Stephan E. soll nicht nur den Regierungspräsidenten Lübcke erschossen, sondern auch einen Iraker niedergestochen haben. Allein die Herkunft machte den Mann zum Ziel. Der politische Attentäter nimmt sein Opfer nicht als Mitmenschen, als Familienvater wahr, sondern nur noch als Träger von Merkmalen, die zu bekämpfen er für nötig erklärt hat.

Politische Attentate - insbesondere, wenn sie gleichsam in Serie verübt werden - passieren nicht einfach so. Sie sind Folge eines gesellschaftlichen Klimas, das ihnen den Boden bereitet. Dieses Klima wird seit einigen Jahren in den digitalen Netzwerken nicht nur gesetzt, sondern durch sie sogar gefördert. Deren Algorithmen belohnen die massenhafte Preisgabe von Anstand und Respekt. "Volksverräter" ist ein Ausdruck, der dort mittlerweile so üblich ist wie Chlor im Schwimmbad.

Wie schützt man Kommunalpolitiker (und andere) in diesem Klima? Gewiss nicht mittels Leibwächter. Wie sollte dies zu machen sein, angesichts eines unübersehbaren Kreises von potenziell Betroffenen? Es helfen letztlich auch keine Rundschreiben von Behörden, ein Landrat solle doch besser den Wagen in die Garage stellen und stets die Muttern prüfen. Unrealistisch ist auch der Gedanke, Anonymität auf Facebook und Twitter verbieten zu können. Meinungsfreiheit ist kein Grundrecht, das es nur unter Bedingungen gibt. Den Schutz von womöglich Betroffenen müssen Staat und Gesellschaft gemeinsam übernehmen.

Beim Staat sind zunächst Staatsanwaltschaften und Gerichte gefragt. Allzu viele Kommunalpolitiker berichten nach wie vor, alleingelassen zu werden. Sie müssten auf sich selbst aufpassen; solange nichts passiere, könne man leider nichts tun - das sind die Antworten, die Bürgermeister oft bekommen, wenn sie auf rohe Mails hinweisen, oder darauf, dass ihnen am Abend jemand gefolgt war, der im Amt einen unerfreulichen Termin hatte. Es ist gut, dass einige Bundesländer nun Zentralstellen zur Verfolgung von Hasskriminalität geschaffen haben. Es ist gut, dass es mittlerweile Razzien nicht nur gegen Dealer, sondern auch gegen Internet-Hetzer gibt. Zwei Gruppen haben hier zu lernen: die Täter, dass sie Kriminelle sind, mit einem reellen Risiko, erwischt zu werden - und Staatsanwälte, dass ihre Mühe nicht der Ahndung einer vermeintlichen Lappalie gilt, sondern der Bewahrung eines Klimas, ohne das die Demokratie in Angst und Brutalität versänke.

Zugleich ist dieser Klimaschutz eine Arbeit, die sich nicht einfach an juristische und politische Profis delegieren lässt. Sie ist jedermanns Aufgabe. Es ist von Bedeutung, wenn Bundesligaspieler aus Protest gegen Rassismus niederknien. Es ist von Bedeutung, dass der Bundespräsident bedrohte und angegriffene Bürgermeister mehrmals trifft und ihnen damit Solidarität und Öffentlichkeit verschafft. Manche dieser Bürgermeister haben zudem gute Erfahrungen damit gemacht, bei einer Respektlosigkeit in einer Versammlung zunächst diese Respektlosigkeit zum Thema zu machen, vor der Antwort zur Sache. Denn dann beenden die anderen im Saal oft jenes Schweigen, das vielen Bürgermeistern erst recht Furcht bereitet, sie klatschen - und signalisieren so dem Beleidiger: nicht in unserem Namen! Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer lud in der Debatte um Kontaktbeschränkungen zum Runden Tisch in die Staatskanzlei ein, mit doppeltem Nutzen: Jeder kam zu Wort, jeder musste aber auch zuhören - und so erfahren, dass man nicht für "das" Volk spricht, sondern nur für sich und seine Gruppe.

Walter Lübcke ist tot, weil in der Gesellschaft ein Feld aus Hass und Aggression gedieh. Diese schuldet es ihren Repräsentanten und sich selbst, diesem Feld nicht länger beim Wachsen zuzusehen.

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