Israel:Eine Schicksalswahl steht an

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Gerade anderthalb Jahre ist es her, dass Jair Lapid und Benjamin Netanjahu gegeneinander antraten - Israel befindet sich seit dreieinhalb Jahren im Dauerwahlkampf. (Foto: Jamal Awad via www.imago-images.de/imago images/ZUMA Wire)

Das Land ist erschöpft vom Wahlreigen. Doch im vergangenen Jahr zeigte sich unter Jair Lapid, dass eine Politik jenseits der permanenten Polarisierung möglich ist. Sollte sich Netanjahu am Dienstag nun doch durchsetzen, droht ein Rückfall.

Kommentar von Peter Münch

Wahltage sind Feiertage in Israel. Es ist arbeitsfrei und schulfrei, doch ein Tag zum Genießen wird der 1. November sicher nicht für die Israelis. Denn dass sie an diesem Dienstag zum fünften Mal in dreieinhalb Jahren zur Wahl gehen, führt ihnen vor Augen, wie bedroht ihr nach außen hin so starker Staat im Inneren ist. Ein solcher Wahlreigen ist nicht nur ermüdend, er ist zersetzend für die Demokratie.

Auf den ersten Blick ist bei dieser Abstimmung alles so wie immer seit Beginn des Wahlwahnsinns anno 2019: Zwei Blöcke stehen sich gegenüber - einer für Benjamin "Bibi" Netanjahu, einer gegen ihn. Diese Blöcke sind allen Umfragen zufolge ungefähr gleich stark. Auch eine sechste Wahl in wenigen Monaten ist also angesichts eines möglichen Patts nicht ausgeschlossen.

Auf den zweiten Blick aber zeigt sich, dass es bei dieser Wahl um viel mehr geht als nur um die Frage Pro-Bibi oder Anti-Bibi, um mehr als um den Zweikampf zwischen Netanjahu, der zum ersten Mal seit 2009 wieder als Herausforderer antritt, und Jair Lapid, der mit dem Amtsbonus ins Rennen geht. Die Israelis sind nicht nur aufgerufen, eine Regierung zu bestimmen. Sie müssen auch darüber entscheiden, in was für einem Land sie künftig leben wollen.

Lapid steht als Chef der liberalen Zukunftspartei für die Suche nach Kompromissen in einer zunehmend polarisierten Gesellschaft. Versucht hat er dies als Architekt jener bunten Acht-Parteien-Koalition, die Netanjahu nach der vorigen Wahl von der Macht verdrängte. Gewiss, diese Regierung ist nach nur einem Jahr gescheitert - an inneren ideologischen Widersprüchen sowie am Druck von außen, der gleich mehrere rechte Abgeordnete aus der Koalition zum Wechsel ins Netanjahu-Lager verleitete. Doch auch in dieser kurzen Zeit hat das Bündnis ein Beispiel geben können.

Lapid steht für das Gegenteil der populistischen Netanjahu-Politik

Denn im vergangenen Jahr konnten die Israelis erleben, wie Politik jenseits der permanenten Überhitzung funktionieren kann. Wie Politiker aus rechten, linken und einer arabischen Partei als Koalitionäre um Kompromisse rangen. Wie sie zum ersten Mal nach 2018 wieder einen Staatshaushalt verabschiedet haben, wie sie - nicht immer, aber immer wieder - Gemeinwohl über Einzelinteressen gestellt haben.

Es ist das Gegenmodell zur populistischen Politik Netanjahus, der insgesamt schon 15 Jahre lang regiert hat und nun wieder nach dem Premiersamt greift. Zwei Motive leiten ihn: Er will die Macht, und er will einer Verurteilung entgehen in dem gegen ihn laufenden Korruptionsprozess. Dafür hat er einen rechts-religiösen Block gebildet, in dem er sich zwei jeweils problematischen Partnern ausgeliefert hat: Zum einen die beiden ultraorthodoxen Parteien, die noch in jeder Regierung allein ihre Partikularinteressen durchgesetzt haben. Zum anderen die ultrarechten Religiösen Zionisten, die mit rassistischen Provokationen die Gesellschaft spalten und die Konflikte schüren.

Die Israelis müssen sich entscheiden: Zwischen einer rechts-religiösen Regierung, die allein auf Stärke setzt und damit den Zusammenhalt der Gesellschaft bedroht. Oder einem instabilen, weil heterogenen Bündnis, das jedoch für Pluralismus steht und demokratische Kompromisse. Ein paar Tausend Stimmen, ein Parlamentssitz hin oder her, können am Dienstag den Ausschlag geben über Israels Zukunft.

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