Was macht eigentlich … der Papst? Das ist derzeit eine viel gestellte Frage an Vatikan-Beobachter, schließlich war Leo XIV. am Donnerstag seit 100 Tagen im Amt. Man erinnert sich an die pompöse Amtseinführung mit Staatsgästen aus aller Welt, an die hochgesteckten Erwartungen – und nun? Die kürzestmögliche Antwort lautet: Alles gut, der Papst macht seine Arbeit.
Wobei sogleich zu klären wäre, was denn seine Arbeit eigentlich ist. Das Beschäftigungsgebiet ist umfassend, man kann auch sagen: übermenschlich. Ein gewaltiges Pensum, für das der Neue jedenfalls besser gerüstet ist als seine Vorgänger: Er ist jung im historischen Vergleich, gerade 69 Jahre alt, leidenschaftlicher Tennisspieler und leistungsstark.
Was die konkrete Entscheidungsgewalt im kleinsten Staat der Welt angeht, ist seine Aufgabe überschaubar, selbst wenn die oberste Zuständigkeit für einige Hunderttausend kirchliche Würdenträger in aller Welt dazuzurechnen ist. Er ist nicht für das Wohl eines großen Staatsvolkes zuständig, muss es nicht verteidigen, der Vatikan hat keine Armee. Aber als Glaubensoberhaupt von 1,4 Milliarden römisch-katholischer Christinnen und Christen ist er qua Amt nicht nur für deren Glücksmomente, sondern auch für all ihre Not und Pein zuständig.
Der Kummer schnitt Franziskus in die Seele
Das ist eine gewaltige Aufgabe, der Vorgänger litt daran sichtbar. Der Kummer schnitt Franziskus tief in die Seele, er haderte mit den Kriegsherren, mit dem Kapitalismus, den Umweltverheerungen und dem Verlust an Werten. Bis zum Schluss erhob er seine Stimme, mahnte und appellierte zunehmend verzweifelt. Und sein Nachfolger?
Leo hält Reden im Sinne des Vorgängers, auf den er sich ausdrücklich immer wieder bezieht. Er verurteilt die Gewalt in Gaza und in der Ukraine und fordert mehr soziale Gerechtigkeit. Diese Appelle liest er ab, mit leiser Stimme und wenig Emotion. Seine Auftritte haben nicht die Wucht jener von Franziskus, vom charismatischen Johannes Paul II. ganz zu schweigen. Interviews, eine Spezialität seines Vorgängers, gibt er bisher nicht. Während dieser sich immer wieder in Haftanstalten fahren ließ und mit den Gefangenen Gottesdienste feierte, empfing Leo einige Strafgefangene dezent im Vatikan. Schon hört man, es drohe ein Pontifikat der Langeweile. Dass es auch anders geht, hat Leo jüngst vor einer Million Menschen beim Weltjugendtag in Rom bewiesen, als er mit seiner ruhigen und fürsorglichen Art begeisterte.
Leo ist sich der Insignien der Macht bewusst
Die Wirkung nach außen ist das eine, jene nach innen das andere. Letztere liegt dem neuen Papst derzeit besonders am Herzen, er schafft Ordnung im Vatikan. Denn auch das gehört zu den Aufgaben des Amtes, man hatte es unter Franziskus fast vergessen, der ein Einzelgänger war, dem der Apparat zunehmend entglitt.
Franziskus wollte nicht hinter Mauern regieren, er wollte draußen sein, buchstäblich an den Rändern der Welt. Dass ihn seine erste Reise nach Lampedusa führte, zu den Bootsflüchtlingen aus Afrika – was für ein Zeichen war das! Leo dagegen hat noch keine Reise unternommen, allenfalls zu sommerlichen Kurzurlauben in Castel Gandolfo – eine Tradition, mit welcher der asketische Franziskus demonstrativ gebrochen hatte. Wie überhaupt der neue Papst sich der Insignien der Macht erinnert hat und sie bewusst nutzt; wohl auch, um seine Position zu festigen: Seht her, der Papst!
Leo solle doch nach Gaza fahren, hat gerade Madonna gefordert, die Sängerin: keine Reaktion aus dem Vatikan. Dafür betont der Papst die Bedeutung der Liturgie, will die Kirche wieder auf ihr Fundament zurückführen. Den Glauben zu leben, statt politische Statements abzugeben, das war die dringende Forderung der Franziskus-Gegner im Kardinalskollegium, auch deshalb haben sie Robert Francis Prevost gewählt. Aber auch die Reformer stehen hinter ihm, erhoffen sich Wohlwollen für den synodalen Weg etwa in Deutschland. Beide Lager in dieser zerrissenen Kirche erwarten viel und oft Gegensätzliches, Leo weiß das. Noch hält er sich bedeckt, beobachtet, sortiert die Interessen, wartet ab. Das muss kein Zaudern, sondern kann ein Zeichen ruhiger Stärke sein.
Er kennt die Zwänge der Realpolitik
Erst konsolidieren, dann expandieren, das ist überhaupt eine gute Strategie für Führungskräfte. Man denkt unwillkürlich an den zwei Tage vor ihm ins Amt gekommenen Kanzler Friedrich Merz, der unter dem entgegengesetzten Motto agiert: gleich raus in die Welt, Sympathiepunkte sammeln – nur leider gerät ihm derweil zu Hause der eigene Laden außer Kontrolle. Vom Papst lernen? Von Leo XIV. könnte er das.
Dieser Papst hat Eigenschaften, die ihn auszeichnen. Zunächst ist er im Gespräch warmherzig und neugierig, er lässt sich auf sein Gegenüber ein, hört zu. Er kann motivieren und vermitteln. Mit seinen zwei Staatsangehörigkeiten, der US-amerikanischen und der peruanischen, steht er mit je einem Bein in Nord- und Südamerika (mit seiner Wahl kam noch die vatikanische hinzu). Er spricht Englisch, Italienisch, Spanisch und Portugiesisch; Deutsch und Latein kann er lesen. Er sammelte an der Spitze des Augustiner-Ordens und zuletzt als Kurienkardinal weltweite Erfahrung. Er kennt auch die Zwänge der Realpolitik. Geboren und aufgewachsen in den USA, weiß er, wie das mächtige Land tickt. Er wird, wenn es sein muss, auch mit Trump umzugehen wissen.
Die Voraussetzungen, die Leo XIV. mitbringt, können noch sehr wertvoll werden. Wenn er, sofern es notwendig wird, seine strategischen Möglichkeiten sieht und ergreift, stehen die Chancen gut, dass er ein großer Papst wird. Der Titel Leo der Große ist zwar schon besetzt, aber das ist lange her. Der 45. Papst war nicht nur 21 Jahre im Amt, von 440 bis 461, sondern auch ein kluger Gestalter, ein geschickter Diplomat. Dem Hunnenführer Attila kam dieser erste Leo zu einem Treffen nach Mantua entgegen. Danach sah der seinerzeitige Schrecken Europas von weiteren Verwüstungen ab und kehrte um. Wenn das mal nicht zu Vergleichen einlädt.


