Reisebegegnungen:Der einzigste schöne Ort

Reisebegegnungen: In einem Hotel wie dem "Royal Barriere" im französischen Deauville lässt es sich gut aushalten. Spannende Begegnungen inklusive.

In einem Hotel wie dem "Royal Barriere" im französischen Deauville lässt es sich gut aushalten. Spannende Begegnungen inklusive.

(Foto: Hemis.fr / Bertrand Rieger/mauritius images / Hemis.fr / Be)

Was man auf Reisen in teuren und weniger teuren Hotels über die Menschen und sich selbst lernen kann.

Kolumne von Karl-Markus Gauss

Das Hotel ist ein Ort flüchtiger Begegnungen, dem ich viele prägende Einsichten verdanke. Von Jugend auf hege ich eine Leidenschaft für diese Etablissements, die sich im Laufe der Jahre nie abgeschwächt hat, obwohl sie ursprünglich wohl daher rührte, dass ich Hotels zuerst in der Literatur, also in der Vorstellung und Fantasie, kennenlernte und erst später dazu kam, als Reisender und Gast tatsächlich in ihnen zu nächtigen. Dabei sind mir die einfachen Häuser nicht weniger lieb als die teuren, und gerade in mancher fragwürdigen Absteige traf ich auf Leute, die mir Dinge zu erzählen wussten, die ich in den Filialen renommierter Ketten wohl nie zu hören bekommen hätte. Obwohl man auch in diesen mancherlei über die Entwicklung unserer globalisierten Gesellschaften erfahren kann.

Als ich vor einiger Zeit als Teilnehmer eines Kongresses in einem Haus untergebracht wurde, für das ich mir aus Eigenem nie und nimmer die 380 Euro pro Nacht geleistet haben würde, fiel mir etwas Merkwürdiges auf. Je teurer die Hotels sind, umso weniger scheren sich die Gäste darum, ob sie noch ein leidlich zivilisiertes Bild ihrer selbst bieten. Sie kommen aus dem Fitnesscenter des sechsten Stocks im durchgeschwitzten Sportdress in den Frühstückssalon, in dem sie auf Leute ihres Standes und Einkommens treffen, die im Trainingsanzug mit der rechten Hand achtlos aus Schüsseln schaufeln, während sie mit der linken über das Smartphone wischen. Nirgendwo sind krampfadrige Männer meines Alters in solch kurzbehoster Brigadenstärke anzutreffen wie im Luxushotel. Nicht dass ich dem Bodyshaming meinen Tribut entrichten möchte, doch die Verkehrung der Kleidervorschriften ist eklatant: Während früher die Sklaven nackt waren und ihre Herren in eleganter Kleidung steckten, ist es heute umgekehrt. Die Angestellten sind, auch bei größter Sommerhitze, verpflichtet, in penibel adjustierter Uniform zu dienen, die zahlenden Gäste hingegen sitzen in der mit Marmor, Lüstern, Springbrunnen ausstaffierten Lobby herum, als würden sie am nahe gelegenen Strand gleich die bereitgestellten Liegestühle belegen. Der Kofferträger schleppt seine Fracht in Livree vom Taxi in die Hotelsuite, die Internationale der Begüterten aber gibt sich unter ihresgleichen ganz ungeniert und würde es sich allerdings verbitten, wenn das Personal sie in Shorts oder im Strandkleid empfinge.

Im Frühstücksraum entwickelt sich ein aufschlussreiches Gespräch mit anderen Gästen

Vergangene Woche hatte ich das Glück, in Dortmund an zwei literarischen Abenden teilnehmen zu dürfen und in einem charmanten Familienbetrieb untergebracht zu sein. Wie es sich erfreulich fügte, nahm am ersten Tag beim Frühstück ein Ehepaar im gerade erreichten Rentnerstatus an meinem Tischchen Platz. Die beiden, die sich in völliger Eintracht des Denkens und Urteilens befanden, hatten sich über die Jahre auch darin angeglichen, gerne grammatikalisch falsche, für ihre Sicht der Dinge aber rundum passende Superlative zu verwenden. Die Ehefrau betonte mehrfach, dass sie sich mit bestimmten Dingen in "keinster Weise" abfinden werde, wofür wiederum ihr prinzipiell zustimmender Mann sein "vollstes Verständnis" zeigte. Voller als voll kann ein Glas freilich nicht sein, denn dann läuft es über, und wenn jemand sagt, gestern wäre der Kollege R. wieder mal der vollste gewesen, dann handelt es sich um eine allenfalls metaphorisch zutreffende Beschreibung, insofern auch der menschliche Körper ein Gefäß bildet, das, wenn es voller als voll ist, und sei es an Alkohol, die zugeführte Menge überfließend nicht mehr in sich behalten kann.

Politisch gesehen waren meine sympathischen und angenehm mitteilsamen Hotelgefährten der Überzeugung, dass ein bestimmter, aus der österreichischen Ferne auch von mir geschätzter Politiker der "einzigste vernünftige in der Regierung" wäre. Der Superlativ war hier gleichsam negativ gesetzt, denn er zeichnete zwar diesen einen als Einzigsten aus, aber insgesamt war er doch als abfälliges Urteil über all die anderen gesprochen.

Am Ende fragten mich meine Frühstückpartner, die den Tag mit Museumsbesuchen zu verbringen beabsichtigten, was ich denn heute vorhätte. Ich sagte, dass ich mich ein wenig in der Dortmunder Nordstadt umschauen wollte, von der ich schon so viel gehört hatte. Da blickten sie mich in der echtesten Sorge an und fragten, ob ich wohl wisse, dass es sich bei diesem Stadtteil um den "gefährlichsten Ort in ganz Deutschland" handle?

Die Nordstadt, ein Viertel, in das seit dem 19. Jahrhundert wechselnde Gruppen von Migranten zu- und aus dem sie später oft weitergewandert sind, hat einen schlechten Ruf, für den auch eine besondere Art von Katastrophenreportage mitverantwortlich ist. Es wäre verlogen, die Nordstadt, die auf engem Wohnraum 60 000 Menschen aus 160 Nationen beherbergt, zur multikulturellen Idylle zu erklären. Aber ebenso unangebracht ist es, von einem Ghetto, gar einem Slum oder einer No-Go-Area zu sprechen, aus der der Staat sich zurückgezogen und die Macht kriminellen Gangs überlassen hätte. Manche Häuser sind in desolatem Zustand, andere in den vergangenen Jahren perfekt restauriert worden; da schlurfen Obdachlose mit ihrer geringen Habe vorbei, dort haben neue Geschäfte eröffnet; das eine Straßenstück ist von Müll übersät, dreißig Meter weiter kehren arabische, afrikanische, osteuropäische, deutsche Ladenbesitzer den Weg blitzblank. Die Armut ist unübersehbar, und viele Leute verbringen ihre Tage auf der Straße, vor den billigen Trinker-Buden, in einem der vielen Parks. An manchen Ecken wird ziemlich ungeniert mit Drogen gehandelt, aber es wird auch in fast jeder Straße für soziale und kulturelle Initiativen geworben, die von den Bewohnern des Reviers selbst ausgehen, von privaten Fördervereinen, von der städtischen Verwaltung. Die Dortmunder Nordstadt ist kein normales städtisches Quartier, sondern eine große kleine Stadt mit einer Bevölkerung aus aller Welt, mit beträchtlichen Problemen und beachtlichen Ambitionen. Ob ich in der Nordstadt in eine gefährliche Situation geraten sei, fragte mich anderntags das besorgte Ehepaar. Nein, abgesehen davon, dass ein paar junge Dealer grimmige Miene machten, als ich sie zu lange bei ihrer wohlorganisierten Arbeit beobachtete, war das in keinster Weise der Fall.

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Kolumne von Karl-Markus Gauß
Gauß

Karl-Markus Gauß, geboren 1954 in Salzburg, ist österreichischer Schriftsteller und Essayist. Er ist Herausgeber der Zeitschrift "Literatur und Kritik" und Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Alle Kolumnen von ihm lesen Sie hier.

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