Migration:Im Jerusalem des Nordens

Lithuanian Border Patrols As Illegal Migrant Crossings From Belarus Multiply

An der Grenze zwischen Litauen und Belarus.

(Foto: Paulius Peleckis/Getty Images)

Litauen hat viel eigene Erfahrung mit Krieg und Flucht. Doch jetzt tut sich das Land schwer mit den Flüchtlingen, die über Belarus kommen.

Kolumne von Karl-Markus Gauß

Als ich vor bald 25 Jahren zum ersten Mal in Litauen unterwegs war, mutete mich das Land abweisend an, bewohnt von unglücklichen Menschen, die sich unverstanden fühlten und eifersüchtig darüber wachten, dass niemand ihren Status als Opfer infrage stelle. Sie hatten allerdings Anlass, mit der Geschichte ihres Landes zu hadern, wechselte etwa ihre Hauptstadt im 20. Jahrhundert doch zehn Mal die staatliche Zugehörigkeit. Am schnellsten und furchtbarsten geschah das zwischen 1938 und 1945, als Vilnius zuerst dem polnischen Staat und dann für kurze Frist der unabhängigen Republik Litauen zugehörte, 1940 von der Roten Armee eingenommen, 1941 von der Wehrmacht besetzt und 1944 von der Roten Armee rückerobert wurde.

Als sich die Sowjets Litauen im November 1940 einverleibten, haben sie sogleich 20 000 Lehrer, Geschäftsleute, Wissenschaftler deportiert. Auch wegen dieser Repressionen wurde im Jahr darauf die Wehrmacht von vielen als Befreierin bejubelt. Unfassbar jedoch, was in den Monaten nach dem deutschen Einmarsch in Vilnius geschah, in einer Stadt, in der die Juden ein Drittel der Bevölkerung stellten. Im "Jerusalem des Nordens" trieb die litauische Hilfspolizei die Juden aus den innerstädtischen Vierteln in die Wälder hinaus, wo binnen weniger Wochen rund 95 Prozent der "Litvaks", insgesamt 200 000 Menschen, ermordet wurden, nicht nur von der SS, sondern auch von ihren Nachbarn, die sich zum Abschlachten eigens Urlaub nahmen.

Es ist verheerend, wenn lauter Opfer darum konkurrieren, wer mehr gelitten hat

1944 kamen die Sowjets wieder, als Befreier, die bis zu Stalins Tod 350 000 Litauer in den Gulag deportierten oder zu Hause in Gefängnissen drangsalierten. 350 000 bei nicht einmal drei Millionen Einwohnern! Keine Familie gab es, die nicht mindestens ein Mitglied hatte, das als Schädling, Saboteur, Verräter für Jahre in sowjetischen Lagern verschwand.

Was für ein unglückliches Land, dachte ich mir, als ich Litauen später neuerlich bereiste und mit verbitterten Kommunisten und verbitterten Nationalisten sprach, mit enttäuschten Polen, die Vilnius für eine polnische Stadt namens Wilno hielten, mit den resignierten letzten Litauen-Deutschen, die kuriose wie traurige Heimatabende veranstalteten, und mit Emanuelis Zingeris, dem einzigen jüdischen Abgeordneten und Direktor des "Hauses der Toleranz". Zingeris schilderte eindringlich, wie verheerend es sich auf die Gesellschaft auswirkte, dass lauter Opfer darum konkurrierten, wer mehr gelitten hatte.

Das hat sich in den letzten Jahren geradezu dramatisch zum Besseren verändert. Zu Recht ist die stalinistische Repression im nationalen Gedächtnis omnipräsent geblieben, gleichwohl gibt es jetzt gesellschaftliche Initiativen, private und wissenschaftliche Projekte, die bezeugen, dass in Litauen nicht nur Litauer von den Sowjets, sondern auch zahlreiche litauische Juden von ihren eigenen Landsleuten verfolgt wurden.

Der Aufbruch aus der starren nationalen Opferidentität fällt in die Jahre nach dem Beitritt Litauens zur Europäischen Union. Diese ist nirgendwo beliebter als in der baltischen Republik, die seit 2004 das Bruttoinlandsprodukt um 130 Prozent zu steigern wusste. Seither ist demografisch zweierlei geschehen: Nach der einen Seite sind Hunderttausende Litauer in Länder ausgewandert, in denen sie bessere berufliche Perspektiven haben; aus der Gegenrichtung aber sind viele Nachfahren von litauischen Auswanderern ins Land der Eltern, Großeltern zurückgekehrt, darunter übrigens auch eine kleine Gruppe von Juden.

Litauer sind in der ganzen Welt zu finden, seit dem 19. Jahrhundert haben sie unablässig ihr Land verlassen, verlassen müssen, um politischer Unterdrückung und wirtschaftlicher Not zu entrinnen. So viele Litauer selbst Flüchtlinge wurden, so wenig Erfahrung haben die Litauer mit Menschen, die als Flüchtlinge in ihr Land zu kommen versuchen. Nun hat der belarussische Despot Lukaschenko die perfide Idee gehabt, Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak an die 680 Kilometer lange Grenze zu Litauen bringen, damit diese über Felder und Wälder auf das Territorium der Union zu gelangen versuchen.

Natürlich gibt es keine Flüchtlinge, die von wer weiß wo aufbrechen, um ausgerechnet in Belarus Schutz zu suchen. Wer als Flüchtling nach Belarus kommt, kommt Lukaschenko wie gerufen, um weiterverfrachtet zu werden, in jene Europäische Union, die Sanktionen gegen sein Regime erlassen hat und dafür gestraft werden muss. Die politische Strategie, Flüchtlinge als politische Manövriermasse einzusetzen, ist niederträchtig und darf nicht hingenommen werden. Aber ist es in dieser Situation die einzige Aufgabe der Europäischen Union, Litauen beim Grenzschutz zu helfen?

Wie soll man den Fremden begegnen? Lukaschenko bringt viel Unruhe ins Land

Litauen hat zwischen 2004 und 2018 insgesamt 747 Flüchtlingen den Status von Asylbewerbern zuerkannt, die meisten von ihnen sind übrigens Belarussen und Ukrainer. Nun aber schlagen sich auf einmal Syrer und Iraker über die Grenze. An die 5000 sollen es sein, die ins Land gelangten, ehe rasch hochgezogenen Zäune mit dem sogenannten Nato-Draht ausgestattet wurden.

5000 Menschen sind nicht viel, selbst für ein kleines Land, und doch sind Unruhe, Unsicherheit, Unmut groß. In der Hauptstadt wird demonstriert, im Grenzland mit seinen überwiegend kleinen Städten und Dörfern legen sich die Bewohner auf die Straße, um Lastkraftwagen, die Material für provisorische Flüchtlingslager herbeischaffen, an der Zufahrt zu hindern. Da und dort rotten sich aufgebrachte Menschen zusammen, die bisher noch nie Menschen aus anderen Kontinenten gesehen hatten, und verlangen, dass das auch so bleiben möge.

Die Appelle der litauischen Politiker, die um europäischen Beistand ersuchen, klingen nicht martialisch, eher verzweifelt. Darin wird zwar auch gefordert, dass die Union erfahrene Grenzschützer schicke, aber ebenso Rat erbeten, wie Staat und Gesellschaft den Fremden begegnen könnten und sollten. Vielleicht sollte man nicht vergessen, die Hunderttausende Landsleute zu fragen, die verstreut über die halbe Welt leben und von denen viele ihr Geld nach Hause schicken.

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Karl-Markus Gauß, 67, ist Schriftsteller und Essayist. Er lebt in Salzburg.

Korrektur: In einer früheren Version dieses Artikels wurde unfreiwillig der Eindruck erweckt, nur lokale Kollaborateure seien für die Ermordung von 200 000 Juden in Litauen im Zweiten Weltkrieg verantwortlich gewesen. Das ist nicht richtig, die Massaker wurden maßgeblich von deutschen SD- und SS-Truppen verübt.

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