Süddeutsche Zeitung

Corona-Maßnahmen:Der Staat hat eine Familienberatung nötig

Die vom Bund vorgeschlagenen Kontaktbeschränkungen sind Kindern schlicht nicht vermittelbar. Konsequenter wäre es, die Schulen für befristete Zeit zu schließen - und Eltern entsprechend zu entlasten.

Kommentar von Meredith Haaf

Zum Glück ist "Vater Staat" nur eine Redewendung, und eine, die inzwischen kaum jemand ernsthaft benutzt. Denn seit heute kursieren zum Thema weitere Kontaktbeschränkungen in Bezug auf Kinder mal wieder Vorschläge des Bundes, die jeglichen Bezug zu deren Bedürfnissen und Realitäten deutlich vermissen lassen. Wäre der Staat wirklich erziehungsberechtigt, würde man ihm langsam eine Familienberatung nahelegen.

Nachdem monatelang die schulpolitische Handlungsstarre damit begründet wurde, dass die Schulen ohnehin offen bleiben würden, steht nun der Wechselbetrieb wieder im Raum. Sicher finden in den Schulen viele Sozialkontakte statt. Aber während immer noch unklar ist, welchen Beitrag sie zum Infektionsgeschehen leisten, ist völlig unumstritten, dass diese Sozialkontakte für die pädagogische und psychologische Entwicklung von Kindern und Jugendlichen lebensrelevant sind.

Schon im Sommer hatte der Wechsel zwischen Heim- und Klassenzimmerbeschulung zur Verschärfung des Chancengefälles in der Bildung geführt. Und auch wenn Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler sowie Eltern mehr Erfahrung in eine weitere Runde bringen würden: Die technische Ausstattung an Schulen und in Familien ist immer noch ungleich verteilt, die Eltern, die beim letzten Mal schon überfordert waren, sind diesmal bereits von den finanziellen, sozialen und psychischen Belastungen des Jahres geschwächt. Letzteres kann man niemandem anlasten. Aber die mangelnde Voraussicht der Verantwortlichen wird für viele Kinder, Familien und auch die Institution Schule langfristig Folgen haben.

Der Vorschlag führt zu einer sozialen Casting-Show

Um aber die Schulen doch noch ein bisschen weiter offen zu halten, sollen Kinder und Jugendliche nun, so die Beschlussvorlage, "dazu angehalten werden, in der Freizeit nur noch einen festen Freund zu treffen". Zugleich soll jeder Haushalt sich nur noch mit einem anderen, festzulegenden Haushalt weiter treffen dürfen. Stellt man sich das in der Realität vor, entsteht eine soziale Casting-Show: "Wähle deinen Corona-Freund".

Besonders absurd ist dieser Vorschlag, weil doch in relativ vielen Familien mehr als ein Kind lebt, und diese Kinder eher selten Geschwisterfreundschaften zu anderen Familien pflegen. In einer fünfköpfigen Familie könnte es also dazu kommen, dass jedes Kind eine eigene Kontaktfamilie hat, und sich die Familie als Einheit für einen weiteren Haushalt entscheiden soll. Das macht dann - eigenständige Freundschaften der Eltern, die offenbar nicht vorgesehen sind, abgezogen - schon wieder vier verschiedene Kontakthaushalte. Die Logik darin ist selbst beim besten Willen nicht mehr einfach zu erkennen.

Eltern brauchen Hilfe, etwa eine bezahlte Freistellung

So wie es aussieht, wird es bei einer Empfehlung dazu bleiben und nicht zu einer Anordnung kommen. Aber selbst wenn diese Empfehlung virologisch Sinn ergeben sollte: Vermittelbar ist sie kaum. Kinder, die wie in Bayern schon im Unterricht und in ihren Nachmittagsbetreuungen seit Wochen und Monaten durchgehend Maske tragen, für die Freizeitsport, Musikangebote, gemeinsame Kreativität entfällt, sollen dann also aussieben, welchen einen Freund sie noch zum Spielen treffen - während sie wiederum weiterhin mit zahlreichen anderen in ihre überregulierte Institution zu stiefeln haben.

Besser für alle - Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler sowie Eltern - wäre es dann, den Betrieb vorübergehend, aber mit klarer Perspektive gleich ganz einzustellen; und Eltern etwa durch bezahlte Freistellung so zu unterstützen, dass sie ihre Kinder adäquat versorgen können, anstatt sie sich wieder in einer "Alles gleichzeitig, nichts richtig"-Vorhölle ohne Aussicht auf Erleichterung verkämpfen zu lassen. Das wäre auch konsequenter als das schlecht begründete Stückwerk, das derzeit kursiert. Denn, wie erfahrene Eltern wissen, müssen auch für junge Kinder Regeln einigermaßen nachvollziehbar und logisch sein, um akzeptiert zu werden.

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