Der Kardinal sagt, er sei ein lernender Mensch. Und wer Reinhard Marx zuhört, was er zu dem Gutachten sagt, das sexuellen Missbrauch im Münchner Erzbistum und die jahrzehntelange Vertuschung beleuchtet, möchte meinen, dass er schon viel gelernt hat über die "dunkle Seite" seiner Kirche. Desaster, Ort des Unheils, Ort der Angst, Schuld, Vorwurf, Verantwortung, Aufarbeitung, Erneuerung, Reformschritte. Sein Statement zur Lage der katholischen Kirche ist voll solcher starken Begriffe. Sie wirken wie aus dem katholischen Wörterkasten und sollen signalisieren: Ich habe verstanden!

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Marx hat ja auch schon gehandelt in den vergangenen zwölf Jahren. 2010, als der katholische Missbrauchsskandal auch in Deutschland offenbar wurde, hat er Anwälte mit der ersten Untersuchung in einer deutschen Diözese beauftragt. Später hat er die Kanzlei erneut losgeschickt, und deren Gutachten bringt jetzt die Kirche ins Wanken und lässt selbst überzeugte Katholiken zweifeln, sogar am deutschen Papst.
Der Missbrauchsskandal ist ungeheuerlich, aber er machte ihn nicht zur Chefsache
Einen großen Teil seines Privatvermögens hat Marx in eine Stiftung gegeben, um Betroffene zu unterstützen, er hat dem Papst seinen Rücktritt angeboten, um Verantwortung für das Versagen der Kirchenoberen zu übernehmen. Und Marx, der katholische Reformer, sagt seit Jahren, was dringend zu tun und zu ändern sei in dieser Kirche, beginnend mit dem Synodalen Weg, denn: Der Münchner Kardinal hat verstanden.
Aber versteht er auch, seinen Worten und Versprechen gemäß zu handeln? Man muss daran zweifeln. Denn obwohl er seit 2010, und erst recht seit der großen, bundesweiten Studie von 2018 um die Dimension der Verbrechen und des Vertuschens in der Kirche weiß, hat er das Thema Missbrauch in seinem Bistum nicht zur Chefsache gemacht. Genau das halten ihm auch die Gutachter vor. Dass sich der Erzbischof nicht wirklich zuständig gefühlt habe für Beschuldigte oder überführte Täter und ihre Opfer.
Jetzt muss er ehrliche Empathie leben. Es ist die letzte Chance
Der Münchner Erzbischof hatte und hat im Vatikan und in der Weltkirche viel zu tun. Seinem Ordinariat hat er es überlassen, den Missbrauch zu verwalten; er hat nicht ausreichend nachgefragt, wenn der Verdacht bestand, dass einer seiner Seelsorger die Körper und Seelen von Minderjährigen verletzt hat. Nein, Marx hat, nach allem, was man weiß, nicht aktiv vertuscht in München, aber er hat zu wenig für die Aufklärung und Aufarbeitung getan. Und damit zu wenig für die Betroffenen.
Hirtensorge. So beschreibt der Erzbischof selbst eine seiner Hauptaufgaben, aber im Umgang mit Betroffenen war er nicht der sorgende Hirte, der er sein sollte. Im Kontakt mit verletzten, traumatisierten, wütenden Menschen wirken starke Worte eher schwach. Da braucht es keinen rhetorisch gewandten Politiker. Da braucht es einen mit Zeit und Ruhe. Es gilt, sich zurückzunehmen und zuzuhören, zu trauern um verlorene Jahre und vielleicht auch zu weinen. Die Betroffenen übersehen zu haben, nennt Marx seine "größte Schuld" und "unverzeihlich".
Ist es das wirklich? Diese Erkenntnis ist eher die letzte Chance, genau dieses Hinsehen und Hinhören zu üben und nachzuholen. Um Vertrauen neu aufzubauen, unter den missbrauchten Menschen und im ganzen Kirchenvolk, muss Marx ehrliche Empathie leben. Das weiß er sicherlich, aber vermag er auch, fortan entsprechend zu handeln? Die nächsten Monate werden es zeigen.