Kanada:Auf in den Kampf, aber schnell

Canada's Prime Minister Trudeau attends a virtual town hall in Ottawa

Der Bart ist wieder ab: Justin Trudeau, als er am Sonntag in Ottawa die Neuwahlen für Ende September ankündigte.

(Foto: PATRICK DOYLE/REUTERS)

Warum Justin Trudeau, der langjährige Sonnyboy, sich nun kurzfristig in das Abenteuer einer Neuwahl stürzt.

Kommentar von Reymer Klüver

Einst war er Kanadas Sonnyboy, ein strahlender jugendlicher Held, angetreten, um verkrustete Strukturen aufzubrechen, die sich nach Jahren konservativer Herrschaft in dem Riesenland verfestigt hatten. Justin Trudeau flogen die Herzen zu, als er, der Kandidat der Liberalen (nach europäischen Maßstäben eher eine sozialdemokratische Partei), im Jahr 2015 überraschend die Wahl gewann, mit damals 43 Jahren. Seine offene Art gefiel den Menschen. Daran hat sich bis heute wenig geändert. Aber ein paar Skandale und eine fast vergeigte Wiederwahl später hat sich doch herausgestellt, dass auch Trudeau keine einsam emporragende Lichtgestalt ist, sondern durchaus den Gesetzen der politischen Schwerkraft unterworfen bleibt.

Allerdings zählt er zu den Politikern, die sich ebendieser Gesetze bewusst sind - und sie souverän beherrschen. Auch das hat sich in den nun bereits fast sechs Jahren seiner Regierungszeit erwiesen, und das zeigt er nun erneut, indem er nach nur zwei Jahren in seiner zweiten Amtszeit für Ende September vorzeitige Neuwahlen anberaumen lässt. Es ist ein durchsichtiges Manöver: Trudeau bemüht sich gar nicht erst, sein Kalkül zu verschleiern. Er will sich das Mandat für eine vollständige dritte Amtszeit und eine stabile Mehrheit sichern. Denn bisher steht er einer Minderheitsregierung vor, was zwar in Kanada nicht unüblich ist, ihn aber bei jeder Abstimmung aufs Neue von der Konkurrenz abhängig macht.

Die Stimmung im Land ist gut - außer bei der Opposition

Nun will Trudeau sich die relativ gute Stimmung zunutze machen. Wirtschaftlich geht es Kanada ordentlich, und das Land ist bisher wie kaum ein anderes durch die Pandemie gekommen - und vor allem bei Weitem besser als der große Nachbar im Süden. Beides wird durchaus als Verdienst Trudeaus anerkannt: Laut Umfragen findet die Hälfte aller Kanadier, dass ihre Regierung gute Arbeit im Kampf gegen das Virus geleistet hat (Ein Viertel findet das eher nicht, ein weiteres Viertel hat keine Meinung dazu).

Tatsächlich liegt die Zahl der registrierten Corona-Infektionen und -Todesfälle deutlich unter der anderer Industriestaaten. Die Impfkampagne macht schneller Fortschritte als anderswo: Inzwischen sind 73 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft - eine Spitzenposition. Der Lockdown ist bereits eine Weile aufgehoben. Und, ähnlich wie in Deutschland, federn Milliarden-Geldspritzen der Regierung die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie ab.

Hinzu kommt die Schwäche der konservativen Opposition. Ihr neuer Chef kam in Hochzeiten der Pandemie gegen den Charismatiker und Medienprofi Trudeau nicht an, als der Premier fast täglich vor die Kameras trat. Zudem ringen die Konservativen mit sich: Impfskeptiker melden sich laut zu Wort, und nur Wochen, ehe Hitze und Brände den Westen des Landes versehrten, stimmte ein Parteitag gegen eine Resolution, mit der sie endlich die Realität des Klimawandels anerkennen sollten.

Und doch birgt Trudeaus Kalkül Risiken. Gerade baut sich auch in Kanada die vierte Pandemiewelle auf. Das könnte Ende September die Stimmung drücken. Zwar rechnet niemand mit einer Wahlniederlage des Premiers. Doch wenn es wieder nur für eine Minderheitsregierung reicht, dann könnten die Gesetze der politischen Schwerkraft sehr schnell dafür sorgen, dass Justin Trudeau von der eigenen Partei um seinen Job gebracht wird.

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