Kanada:Wunderkind a. D.

Justin Trudeau hatte auf eine absolute Mehrheit spekuliert. Das war so gar nicht das, was seine Landsleute ihm geben wollten.

Kommentar von Reymer Klüver

Die Wahl - welche Wahl? Nichts, aber auch gar nichts hat die von Premier Justin Trudeau erzwungene vorgezogene Parlamentswahl verändert an den bestehenden Machtverhältnissen in Kanada. Seine Liberale Partei hat nach vorläufigen Ergebnissen einen einzigen (!) Sitz dazugewonnen, die oppositionellen Konservativen haben ein paar Mandate verloren. Aber Trudeau wird weiterhin einer Minderheitsregierung vorstehen, die bei jeder Abstimmung im Parlament aufs Neue vom Goodwill der Linken und des im Kern separatistischen "Bloc Québécois" abhängig ist.

Dabei wollte es Trudeau ganz anders. Verleitet von einem zweistelligen Vorsprung in den Umfragen im Sommer, hoffte er, sich durch die vorgezogene Wahl eine stabile eigene Regierungsmehrheit zu sichern - und somit eine ungefährdete vollständige dritte Amtszeit. Das haben ihm Kanadas Wählerinnen und Wähler verweigert: Sie nehmen dem 49-Jährigen übel, mitten in der Pandemie eine Wahl ohne Not vom Zaun gebrochen zu haben, aus blankem Machtstreben. Aber sie fanden auch die Konservativen nicht überzeugend, die in den Jahren zuvor zunehmend nach rechts gedriftet waren und erst kurz vor der Wahl sich ein Programm der Mitte verpasst hatten. Einzig ermutigt fühlen dürfte sich die populistische "People's Party", in der sich Impfgegner, Verschwörungserzähler und sonstige Querdenker sammeln. Sie hat ihren Stimmenanteil verdreifacht; wegen des Mehrheitswahlrechts in Kanada konnte sie indes kein Mandat erringen.

Die Wahl ist ein Akt der weiteren Entzauberung des einstigen politischen Wunderkinds Justin Trudeau, mutwillig von ihm selbst herbeigeführt. Sein eigenes Wahlziel krachend verfehlt und den rechten Rand im Land gestärkt? Na bravo! Er war einst angetreten, Kanada in "sonnigere Zeiten" zu führen, so hatte er es vor sechs Jahren versprochen. Davon ist nicht viel übrig. Die Kanadier machen weiter mit ihm. Aber nur, weil sie einen Besseren im Moment nicht haben.

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