Polen:Standhafte Erforscherin des Holocaust

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Engelking muss sich mit Hasskampagnen und jahrelangen Gerichtsprozessen herumschlagen. (Foto: AP)

Es ist ein Sieg für die Freiheit der Wissenschaften: Die Warschauer Forscherin Barbara Engelking gewinnt vor Gericht.

Von Florian Hassel

Barbara Engelking kann sich nicht über mangelnde Aufmerksamkeit beschweren. Die Warschauer Historikerin bekommt Preise für ihre Bücher. Ein Rankingdienst setzt die Gründerin und Leiterin des Zentrums für Holocaust-Studien an der Polnischen Akademie der Wissenschaften unter den weltweit einflussreichsten Historikern auf Platz zwölf. Ihre Forschungen zur Geschichte des Warschauer Ghettos und zu dessen Aufstand gegen die deutschen Massenmörder setzten Maßstäbe. Die 59 Jahre alte Engelking erforscht freilich auch dunkle Seiten der polnischen Geschichte - und muss sich deshalb mit Hasskampagnen und jahrelangen Gerichtsprozessen herumschlagen. Ein Ende ist nicht abzusehen.

Vor mehr als einem Jahrzehnt begannen Engelking und ihr Kollege Jan Grabowski, den Verrat und die Ermordung von Juden zu untersuchen, die dem Abtransport in die deutschen Vernichtungslager entkamen und sich in Polens Städten, Dörfern und Wäldern versteckten. Doch Antisemitismus war auch bei Polen verbreitet, zudem vergaben die Deutschen Prämien dafür, die Verstecke von Juden zu verraten, und drohten deren Helfern in der Not mit Strafen bis zur Erschießung. Grabowski überschlägt, dass mindestens 200 000 Juden bei der "Judenjagd" außerhalb der Konzentrationslager starben: meist ermordet nach Verrat an die Deutschen und durch Polen selbst. Polen, die Juden halfen - auch dies waren Tausende -, waren selbst in Gefahr, von ihren Landsleuten verraten zu werden.

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2018 ließen Engelking, Grabowski und sieben weitere Historiker "Dalej Jest Noc" ("Weiter ist Nacht") folgen: mehr als 1600 Seiten umfassende Studien über das Schicksal von Juden, die sich zu verstecken versuchten, in neun Regionen unter deutscher Besatzung. Das Fazit: Mindestens zwei Drittel von ihnen wurde ermordet, meist unter Mithilfe oder direkt durch ihre polnischen Nachbarn, Polizisten, Feuerwehrleute. Polens Regierung dagegen pflegt den Mythos, nicht Verrat oder Mord von Juden durch Polen seien die Regel gewesen, sondern ihre Rettung. Und so flog die unliebsame Historikerin Engelking 2018 als Erstes aus einem internationalen Beirat des Auschwitz-Museums.

"Das Recht auf nationalen Stolz"

Als Nächstes zog die regierungsnahe Stiftung "Redoute für den guten Namen" für eine Rentnerin vor Gericht, die das Andenken an ihren Onkel - im Krieg offenbar erst Retter, dann Verräter versteckter Juden - durch Engelking verletzt sah. Der "Redoute" geht es nicht um die Einzelperson, sondern um "das Recht auf nationalen Stolz" und um "alle Polen, die fälschlicherweise der Mitwirkung am Holocaust beschuldigt werden". Im Februar entschied ein Gericht, Engelking und Grabowski müssten sich bei der Rentnerin öffentlich entschuldigen.

Am Montag aber hob eine noch unabhängige Richterin am Warschauer Berufungsgericht das Urteil auf und erklärte, wenn nicht offenkundige Fälschungen oder Manipulationen vorlägen, sei es nicht Aufgabe eines Gerichts, Methoden, Quellen und Urteile historischer Forschungen zu beurteilen. Die sei "eine unzulässige Form der Zensur und der Einmischung in die wissenschaftliche Freiheit". Jedes Volk müsse sich mit seiner Geschichte auseinandersetzen, auch wenn dies "schmerzhaft und schwer zu akzeptieren ist".

Engelking und Grabowski begrüßten das Urteil "mit großer Freude und Befriedigung - umso mehr, als diese Entscheidung direkte Auswirkung auf alle polnischen Wissenschaftler hat, besonders für Historiker des Holocaust". Doch der Gerichtsmarathon geht weiter, der "Redoute"-Chef will die Aufhebung des Urteils beantragen. Das zuständige Oberste Gericht ist mit etlichen linientreuen Richtern neu besetzt und in weiten Teilen unter Kontrolle der Regierung. Polens Wissenschaftsminister Przemysław Czarnek hält ohnehin wenig von der Freiheit der Wissenschaft: Ende März erklärte er "Dalej Jest Noc" zur "antipolnischen Schmiererei" und kündigte an, nur noch "authentische, inhaltsreiche" Forschungen zu fördern.

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