Süddeutsche Zeitung

Julian Assange:Warum der Journalismus in Gefahr ist

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Der Wikileaks-Gründer hat eine ureigenste journalistische Aufgabe erfüllt: Er hat Missstände öffentlich gemacht. Sollte Großbritannien ihn in die USA ausliefern, kann sich künftig kein Journalist weltweit mehr sicher fühlen.

Kommentar von Frederik Obermaier

Der 10. Dezember 2021 wird in die Geschichte der Pressefreiheit eingehen. Allerdings nicht, weil der Friedensnobelpreis an diesem Tag erstmals seit 1935 wieder an Journalisten vergeben wurde, sondern weil sich seit diesem Tag kein Journalist auf der Welt mehr sicher fühlen kann. Am vergangenen Freitag entschied der Londoner High Court, dass Wikileaks-Gründer Julian Assange in die USA ausgeliefert werden darf. Dort drohen ihm bis zu 175 Jahre Haft. Dem 50-Jährigen wird vorgeworfen, geheimes Material zu US-Militäreinsätzen veröffentlicht zu haben. Die Dokumente und Videos hatte ihm die Whistleblowerin Chelsea Manning zugespielt, die damals für die US-Armee arbeitete. Sie belegen, wie US-Soldaten im Irak unschuldige Zivilisten getötet haben, wie US-Geheimdienstler in Guantanamo gefoltert und wie US-Politiker über den Afghanistan-Krieg die Unwahrheit gesagt haben.

Assange und die von ihm gegründete Enthüllungsplattform Wikileaks haben mit den Veröffentlichungen getan, was die Kernaufgabe des Journalismus ist: Sie haben über einen Missstand berichtet und enthüllt, was mächtige Politiker und Militärs vor der Öffentlichkeit verbergen wollten. In den USA wurde Assange dafür in Abwesenheit unter dem sogenannten Espionage Act angeklagt - einem Gesetz aus der Zeit des Ersten Weltkriegs, das einst verabschiedet wurde, um gegen Spione und Saboteure vorzugehen. Die US-Behörden nutzen es nun, um einen Journalisten, Hacker und Publizisten anzugreifen.

Assange als Präzedenzfall

Assange ist nicht einmal US-Bürger, er ist Australier. Wikileaks ist auch kein amerikanisches Medium. Die einzige Verbindung zu den USA liegt darin, dass Assange offenkundiges Fehlverhalten amerikanischer Politiker, Militärs und Geheimdienstler öffentlich gemacht hat. Auch zahlreiche Medienhäuser dieser Welt - die New York Times, der Guardian, der Spiegel, die Süddeutsche Zeitung - haben auf Grundlage von Geheimdokumenten schon über diese oder ähnliche Skandale berichtet.

Wenn das Urteil in nächster Instanz nicht zurückgenommen wird und es US-Behörden gelingt, Assange in die Vereinigten Staaten ausliefern zu lassen und womöglich für Jahrzehnte wegzusperren, schaffen sie einen gefährlichen Präzedenzfall. Sie bringen damit Journalisten und Journalistinnen weltweit in Gefahr.

Ins Gefängnis, nur weil sie Journalistin ist

Denn wenn es die amerikanische Regierung tut, warum sollten es nicht auch die Chinesen, Russen oder Iraner tun? Wenn der selbsternannte "Leuchtturm der Demokratie" Journalisten mit Hilfe befreundeter Staaten im Ausland festsetzen und ausliefern lässt, was soll andere Länder dieser Welt davon abhalten? Wer soll China ernsthaft daran hindern, Reporterinnen und Reporter, die über Staatsgeheimnisse - etwa die Masseninternierungen von Uiguren in Xinjiang - berichten, weltweit zu verfolgen und mundtot zu machen?

Es ist eine bittere Fußnote der Geschichte, dass der Londoner High Court Assanges Auslieferung ausgerechnet am internationalen Tag der Menschenrechte abgesegnet hat - an jenem Tag, an dem die philippinische Journalistin Maria Ressa und ihr russischer Kollege Dmitrij Muratow in Oslo den Friedensnobelpreis entgegengenommen haben. Ressa sagte in ihrer Dankesrede: "Ich lebe mit der realen Gefahr, den Rest meines Lebens im Gefängnis zu verbringen, nur weil ich Journalistin bin."

Künftig gilt das nicht mehr nur für Journalistinnen auf den Philippinen, sondern für Journalisten auf der ganzen Welt.

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