Zwar hat das Vereinigte Königreich die EU am 31. Januar verlassen, doch der wahre Bruch steht noch bevor. Erst wenn Großbritannien zum Jahreswechsel aus dem Binnenmarkt und der Zollunion ausscheidet, werden Bürger und Unternehmen spüren, was der Brexit für ihren Alltag bedeutet. Wie stark der britische EU-Austritt das Leben verändern wird, hängt davon ab, ob es London und Brüssel gelingt, sich auf einen Handelsvertrag zu einigen. Zu diesen Verhandlungen gehört, neben vielen komplizierten Details, vor allem auch die Fortsetzung eines politischen Dramas, das Europa seit dem Brexit-Referendum in Atem hält.
Wie es aussieht, hat Boris Johnson sein Drehbuch für das Drama entworfen. Der britische Premier baut eine Drohkulisse auf, um Brüssel unter Druck zu setzen. Johnson verknüpft dabei Deadline und Drohung: Sollte bis zum 15. Oktober keine Einigung gelingen, werde es keinen Freihandelsvertrag geben. Das Datum ist geschickt gewählt, denn da findet ein EU-Gipfel statt. Johnson will die Staats- und Regierungschefs in die Pflicht nehmen, die sich bislang hinter ihrem Chefverhandler und den EU-Spitzen versteckt haben.
Brexit:Johnson stellt der EU ein Ultimatum
Großbritanniens Premier verlangt eine Einigung bis zum 15. Oktober. Sollte dies nicht gelingen, werde es kein Freihandelsabkommen geben.
Nun sind Ultimaten und Drohungen an sich nichts Neues im Brexit-Streit. Doch seit Johnsons furiosem Wahlsieg hat sich ein entscheidender Faktor verändert: In London agiert nun eine Regierung, die ihre Brexit-Ideologie glaubhaft über den legendären britischen Pragmatismus stellt. Zwar sitzt die EU qua ihrer Wirtschaftsmacht in den Verhandlungen noch immer am längeren Hebel. Doch dieser verfehlt seine Wirkung, wenn auf der anderen Seite des Tisches jemand sitzt, der ökonomische Realitäten zwar anerkennt, sich aber nicht weiter darum schert.
Die EU täte gut daran, Londons Drohungen anzunehmen
Diese Unberechenbarkeit ist Johnsons größter Vorteil in den Verhandlungen. Die EU täte jedenfalls gut daran, die No-Deal-Drohung aus London ernst zu nehmen. Denn Johnson könnte durchaus versucht sein, die wirtschaftlichen Folgen eines harten Brexit mit den weitaus schwerwiegenderen Folgen der Corona-Pandemie zu kaschieren. Das wäre zwar zynisch, aber es ist möglich.
Was Boris Johnson noch alles zuzutrauen ist, das zeigt ein Bericht der Financial Times. Demnach soll er vorhaben, Teile des Austrittsvertrags mittels nationaler Gesetzgebung auszuschalten. Sollte dies tatsächlich wahr sein, was man bei Johnson nie wissen kann, würde der Premierminister nicht nur einen Vertrauensbruch gegenüber der EU riskieren, sondern auch einen Vertragsbruch. Soweit muss es nicht kommen, es kann auch eine Finte sein. Es gab im Brexit-Drama schon einige Zeitungsberichte, die gezielt lanciert wurden, um Brüssel noch stärker zu verunsichern.
Auch wenn es noch mehrere solcher Versuche geben wird, müssen beide Seiten am Ende aufeinander zugehen, denn ein Kompromiss ist im beiderseitigen Interesse. Für Johnson steht vor allem innenpolitisch einiges auf dem Spiel: Im Fall eines No-Deal-Brexit ist nämlich nicht nur der Frieden auf der irischen Insel in Gefahr, sondern auch die Einheit des Vereinigten Königreichs. Gelingt dem Premier kein Abkommen mit der Europäischen Union, dürfte die Zustimmung der Schotten für ein erneutes Unabhängigkeitsreferendum massiv steigen. Johnson wird sich entscheiden müssen, ob er als Premierminister in die Geschichte eingehen möchte, der die Existenz des Vereinigten Königreichs aufs Spiel setzt.