Süddeutsche Zeitung

Nahostkonflikt:Jerusalem, die Stadt des Zorns

Die jüngste Eskalation zwischen Palästinensern und Israelis zeigt: Die US-Regierung unter Joe Biden muss angesichts des Konflikts rasch eine Neupositionierung der Nahostpolitik vornehmen.

Kommentar von Alexandra Föderl-Schmid

In Jerusalem reicht ein Funke und ein Flächenbrand entsteht. Auch wenn Jerusalem "Ir shalom", Stadt des Friedens, genannt wird - Frieden herrschte in den vergangenen drei Jahrtausenden höchst selten: 118 Mal haben Armeen um diese Stadt oder in ihr gekämpft, 44 Mal wurde sie erobert, 23 Mal belagert. Hier herrschten 1000 Jahre lang Juden, 400 Jahre lang Christen, 1300 Jahre lang Muslime. Allen drei monotheistischen Weltreligionen ist diese Stadt heilig: Für die Juden ist es Zion, das Zentrum jüdischer Religiosität; für Muslime al-Quds, die Heilige; für Christen die Stadt der Passion Jesu.

Nirgendwo sonst verdichten sich Religiosität und Historizität so intensiv wie in der Jerusalemer Altstadt. Hier geht es um die großen Fragen: um Religion, Politik und Macht. Zum religiösen Konflikt kam der Kampf um das Territorium und Jerusalem als Hauptstadt - die sowohl Israelis als auch Palästinenser für sich beanspruchen.

Spannungen rund um den Jerusalem-Tag, an dem in Israel an die Eroberung des Ostteils im Sechstagekrieg 1967 gedacht wird, sind nicht neu. Was aber die jetzigen Auseinandersetzungen so gefährlich macht, ist die Gemengelage. Denn es geht nicht nur um die großen Fragen, die heiligen Stätten und die Hauptstadtdiskussion, sondern es ist ein Konflikt auf mehreren Ebenen, der sich aus verschiedenen Quellen speist: Es geht um den innerpalästinensischen Machtkampf, um die israelische Regierungsbildung und nicht zuletzt um das Verhältnis zu jenen arabischen Staaten, mit denen Israel gerade eine Versöhnung eingeleitet hat.

Netanjahu könnte der Nutznießer der jüngsten Entwicklung sein

Der Anlass für die jüngste Eskalation ist die Zwangsräumung von Häusern von 13 palästinensischen Familien im Ostjerusalemer Stadtteil Sheikh Jarrah. Dabei handelt es sich nicht um einen "privaten Besitzstreit", wie die israelische Regierung behauptet. Der Häuserkampf wird seit Jahren mit ungleichen Mitteln geführt. Denn die Gesetzeslage macht es Siedlern leicht. Können sie nachweisen, dass Häuser vor der Staatsgründung Israels 1948 einmal in jüdischem Besitz waren, geben ihnen Gerichte oft recht. Deshalb suchen Siedlerorganisationen bewusst nach Immobilien, bei denen der Nachweis gelingt. Palästinenser müssen daher oft Häuser verlassen, in denen sie seit Generationen leben. So entsteht neues Unrecht. Zudem vergeben israelische Behörden an Palästinenser keine Baugenehmigungen mehr. Auch das führt zu Vertreibungen durch steigende Preise, denn Palästinenser sind gezwungen, sich günstigere Quartiere am Stadtrand oder im Westjordanland zu suchen.

In und um die Stadt hat Israel in den vergangenen Jahren den Bau neuer Siedlungen intensiviert. Heute zieht sich von Gilo im Süden bis nach Piskat Zeev und Neve Yaakov im Norden ein Ring von jüdischen Wohnvierteln um den Ostteil der Stadt. Treiber dieser Entwicklung war Israels Premier Benjamin Netanjahu, der sich mit Hilfe der ultraorthodoxen Parteien und jener, die Siedlern nahestehen, mehr als ein Dutzend Jahre an der Macht halten könnte.

Er könnte auch der Nutznießer der jüngsten Entwicklung sein. Denn die Welle der Gewalt erschwert die Bemühungen zur Bildung einer neuen israelischen Regierung. Das geplante Bündnis aus rechten, linken und Zentrumsparteien braucht, um eine Mehrheit zu erlangen, die Unterstützung arabischer Abgeordneter - die wird angesichts gewalttätiger israelisch-palästinensischer Konflikte schwerer zu bekommen sein. So ist auch das Anhalten von Bussen mit arabischen Israelis vor Jerusalem eine Provokation.

Waffengewalt in einer Moschee, noch dazu im heiligen Monat Ramadan

Ein Affront gegen Muslime ist auch das Vorgehen der Sicherheitskräfte auf dem Tempelberg - es kursieren Handyvideos, die zeigen, wie Israelis mit Stiefeln über Gebetsteppiche stampfen und eine Rauchbombe ins Innere der Al-Aksa-Moschee werfen: Waffengewalt in einer Moschee, noch dazu im heiligen Monat Ramadan - da können sich auch jene Staaten wie die Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrain dem Protest nicht entziehen, die sich mit Israel jüngst versöhnt haben. Das zwingt die arabische Welt an die Seite der Palästinenser, die sich im Kampf um ihren Staat von ihren Glaubensbrüdern ohnehin alleingelassen fühlen. Für den palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas ist die Konfrontation mit der israelischen Armee eine Möglichkeit, den Zorn, der sich wegen der abgesagten Wahlen gegen ihn richtet, Richtung Israel zu kanalisieren. Diesen Zorn befeuert die Hamas zusätzlich mit Raketen und Brandbomben aus dem Gazastreifen.

Die US-Regierung unter Joe Biden muss angesichts des Konflikts rasch eine Neupositionierung der Nahostpolitik vornehmen. Unter Donald Trump konnte Netanjahu seine Vorstellungen von einem "Groß-Israel" umsetzen, die palästinensische Führung wiederum konnte sich in ihrer Abwehrhaltung einbetonieren. Die Geschichte zeigt: Frieden in Jerusalem kann nur auf dem Verhandlungsweg erreicht werden. Die USA sollten den Anlass nutzen, um das Modell einer fairen Zweistaatenlösung wiederzubeleben.

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