Süddeutsche Zeitung

Nahost:Israels gescheitertes Experiment

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Vor einem Jahr ist ein buntes Regierungsbündnis angetreten, die Risse im Land zu heilen. Nun steht die Koalition von Premier Bennett vor dem Scheitern - und das Land vor harten Zeiten.

Kommentar von Peter Münch, Tel Aviv

Der 13. Juni 2021 war ein Tag für die Geschichtsbücher in Israel. Nach vier Wahlen in Folge und einer beklemmenden Phase der politischen Blockade wurde eine neue Regierung eingeschworen - und was für eine: Ein buntes und eigentlich unmögliches Acht-Parteien-Bündnis aus rechten Ideologen, linken Idealisten und arabischen Islamisten übernahm die Macht und versprach einen Neuanfang nach der Ära des Benjamin Netanjahu. Zum Regierungsjubiläum an diesem Montag kann man nun eine erste Bilanz ziehen. Schade nur, dass man die Geburtstagsglückwünsche wohl gleich mit einem Nachruf verbinden muss.

Denn diese Regierung steht zum Einjährigen vor dem Ende. Womöglich kippt sie schon in dieser Woche, vielleicht schleppt sie sich noch bis zum Monatsende hin oder rettet sich gar in die Knesset-Sommerpause, die am 23. Juli beginnt. Doch im Kabinett des Premierministers Naftali Bennett geht es allein noch ums kurzfristige Überleben und nicht mehr ums Gestalten. Die Mehrheit im Parlament hat die Koalition bereits im April verloren. Seitdem herrscht dort ein Patt von 60 zu 60 - und die Hinterbänkler jeder Couleur können ihre 15 Minuten Ruhm einheimsen, wenn sie die Regierung erpressen und mit ihrem Rückzug drohen. Es wird nicht mehr regiert, sondern nur noch reagiert in Jerusalem.

Und jetzt: Alles auf Anfang? Tatsächlich steht Netanjahu, der Israels Politik seit nunmehr einem Vierteljahrhundert prägt und auch mit 72 Jahren kein bisschen machtmüde wirkt, schon wieder in den Startlöchern. Vom ersten Tag seines Oppositionslebens an hat er die neue Regierung mit Hass und Hetze überzogen, hat sie auflaufen lassen oder vor sich hergetrieben. Kurz, er hat das Seine dafür getan, dass dieses Experiment mit einer äußerst heterogenen Regierung, einer Regierung ohne ihn und gegen ihn, für eine Mehrheit der Israelis bereits als gescheitert gilt.

Dennoch - oder gerade deshalb - lohnt sich ein Blick darauf, was im ersten und aller Voraussicht nach einzigen Jahr dieser Regierung gelungen ist. Das Wichtigste: Sie hat eine Vorbildfunktion gewählt für den gesellschaftlichen Ausgleich. "Heilung" war das Stichwort, das die Architekten dieser Koalition dafür ausgegeben haben. Denn Israel ist längst nicht mehr allein von äußeren Feinden bedroht, von der Hamas, der Hisbollah oder Iran. Fast genauso gefährlich erscheinen die Grabenkämpfe im Innern: die jüdische Mehrheit gegen die arabische Minderheit, die Linken gegen die Rechten, die Religiösen gegen die Säkularen.

Wenn nun Vertreter all dieser Fraktionen gemeinsam eine Regierung bilden, wenn der Siedlerführer Bennett mit dem Araber Mansour Abbas am Kabinettstisch sitzt, dann ist das ein Signal an die gesamte Gesellschaft: Dialog ist möglich, Kompromisse sind kein Verrat. Gewiss ist diese Koalition in Sachen "Heilung" immer wieder auch am eigenen Anspruch gescheitert, am ideologischen Gegensatz ebenso wie an Egoismen. Doch zumindest hat sie den Brückenschlag versucht.

Die Suche nach dem Frieden im Innern hat bei dieser Koalition allerdings einen Preis: Frieden nach außen ist kein Thema. Es gehört zu den Geschäftsgrundlagen dieses heterogenen Bündnisses, dass der Friedensprozess mit den Palästinensern ausgeklammert bleibt, weil es schlicht keine gemeinsamen Positionen dazu gibt. Leisten kann man sich das höchstens auf Zeit. Denn Konflikte verschwinden nicht, wenn man sie ignoriert, sondern werden in der Regel noch brisanter.

Die Mehrheit in Israel will keinen Dialog und keinen Brückenschlag

Dennoch hat diese Regierung auch außenpolitisch Erfolge vorzuweisen. Das Verhältnis zur Schutzmacht USA ist eng und vertrauensvoll. Bennett und US-Präsident Joe Biden mögen weit entfernt sein von der Buddy-Dynamik der populistischen Partner Netanjahu und Donald Trump. Aber mit ihnen ist Rationalität und Berechenbarkeit zurückgekehrt, was ein kaum zu überschätzender Wert ist rund um das nahöstliche Pulverfass.

Konstruktiv hat sich auch das Verhältnis zu den europäischen Partnern entwickelt, was ein Verdienst des diplomatisch geschickten Außenministers Jair Lapid ist. Zudem gedeihen die Abraham-Abkommen zwischen Israel und mehreren arabischen Staaten prächtig, bis hin zu einem Freihandelsvertrag mit den Vereinigten Arabischen Emiraten und Gesprächen über eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur am Golf. Überdies hat sich Israels Verhältnis zu den Nachbarn Jordanien und Ägypten und sogar zur Türkei verbessert.

Zur Erfolgsbilanz gehört schließlich noch die post-pandemische Wirtschaftsentwicklung. Es herrscht fast Vollbeschäftigung in Israel, fürs laufende Jahr wird ein Wachstum von fünf Prozent prognostiziert. Die Inflation liegt mit rund vier Prozent deutlich unter dem sonstigen westlichen Niveau, und der Schekel ist so stark wie noch nie.

Alles in allem kann sich das sehen lassen - und reicht trotzdem nicht, um das weitere Regieren zu sichern. Der Grund dafür, dass dieses Experiment einer Koalition des Dialogs und Brückenschlags so offenkundig zum Scheitern verurteilt ist, liegt in einer ziemlich simplen und ernüchternden Wahrheit: Die Mehrheit in Israel will keinen Dialog und keinen Brückenschlag.

Diese Mehrheit ist in den vergangenen mindestens zwei Jahrzehnten weit nach rechts gerückt. Sie umfasst den Likud von Netanjahu, die beiden Parteien der Ultra-Orthodoxen und das Bündnis der offen rassistischen religiösen Zionisten, die in jüngsten Umfragen zur drittstärksten Partei im Land aufgestiegen sind. Sie suchen keine Kompromisse, sondern Konfrontationen. Sie wollen nicht teilen, sondern herrschen. Und sie werden aller Voraussicht nach bald wieder die Gelegenheit dazu bekommen.

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