Süddeutsche Zeitung

Israel:An der Bruchlinie

Die Ultraorthodoxen genießen eine De-facto-Autonomie. So halten sich viele von ihnen weitgehend ungeahndet nicht an Corona-Schutzmaßnahmen. Das empört säkular eingestellte Bürger. Für den jüdischen Staat kann der Konflikt bedrohlich werden.

Von Peter Münch

Per Gesetz ist Jerusalem anno 198o zur ungeteilten Hauptstadt Israels erklärt worden. Vollzogen wurde damit die Annexion des arabischen Ostteils der Stadt. Doch wer in diesen Tagen durch Jerusalem streift, der findet eine zweigeteilte Stadt vor. Die Trennung jedoch verläuft nicht zwischen dem arabischen Osten und dem jüdischen Westen, sondern zwischen den Vierteln der ultraorthodoxen Juden und dem Rest Jerusalems. Die Corona-Pandemie hat hier eine Bruchlinie in grelles Licht getaucht, die für den jüdischen Staat und seine Identität genauso bedrohlich werden kann wie der althergebrachte israelisch-arabische Konflikt.

In dem einen Teil Jerusalems rund um die zentrale Jaffa-Straße sieht man verriegelte Läden und Passanten, die Masken tragen. Die Schulen sind hier seit Langem schon geschlossen. In dem anderen Teil Jerusalems wie im streng religiösen Mea Schearim dagegen herrscht ein Treiben, als ob es keinen Lockdown und kein Coronavirus gäbe: Fast alle Geschäfte sind geöffnet, kaum einer trägt Maske, und in vielen Jeschiwot, den Religionsschulen, wird scheinbar sorglos unterrichtet.

Solche Zustände wie in Mea Schearim und in den meisten anderen ultraorthodoxen Wohnvierteln und Städten Israels sind gesundheitspolitisch gefährlich. Schließlich entfallen auf den religiösen Sektor, der zwölf Prozent der Bevölkerung ausmacht, aktuell rund 40 Prozent aller Corona-Infektionen. Vor allem aber sind sie gesellschaftspolitischer Sprengstoff: Denn sie werden vom säkularen Teil der Israelis als Provokation und als Warnzeichen dafür wahrgenommen, wohin die De-facto-Autonomie der Ultraorthodoxen führen kann.

Sie genießen viele Privilegien

Seit jeher genießen diese in Israel zahlreiche Privilegien wie die Befreiung vom Militärdienst. Die Ignoranz gegenüber der Pandemie allerdings zählt nicht zu diesen Privilegien - und ist trotzdem über Monate hinweg weithin geduldet worden vom Staat. Nur 2,3 Prozent aller Strafzettel, die landesweit wegen Regelverstößen im jüngsten Lockdown verteilt wurden, betrafen die ultraorthodoxen Wohnviertel. Offenbar fällt es der Regierung leichter, den Tel Aviver Ben-Gurion-Flughafen für den gesamten Luftverkehr zu schließen als eine Schule in Mea Schearim.

Der Eindruck also, dass ein Teil der Gesellschaft über dem Gesetz steht, wird von der Politik befördert - und verantwortlich dafür ist in erster Linie Premierminister Benjamin Netanjahu. Zwar haben auch die meisten Regierungschefs vor ihm mit den religiösen Parteien im Parlament koaliert und deren Klientelpolitik bedient. Doch keiner vor ihm hat sich in eine solche Abhängigkeit begeben. Netanjahus Macht hängt von der Unterstützung zweier ultraorthodoxer Parteien in der Koalition ab, und das hat jenseits der nun gefeierten Impferfolge nicht nur dunkle Schatten auf die Corona-Bekämpfung in Israel geworfen, sondern auch die Gräben in der Gesellschaft vertieft.

Die Folgen dieser Politik sind nun auf den Straßen zu sehen: Wenn die Polizei doch einmal durchgreift, um in den ultraorthodoxen Vierteln große Hochzeitsfeiern zu beenden oder Schulen zu schließen, folgen tagelange Krawalle, die das ganze Land erschrecken. Dies sollte eigentlich Anlass sein, die Regeln des Zusammenlebens neu zu definieren, um den inneren Frieden in Israel zu sichern. Doch die Chancen dafür stehen gerade mal wieder schlecht. Es herrscht Wahlkampf in Israel, und Netanjahu ... siehe oben.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5186464
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.