Süddeutsche Zeitung

Corona-Politik:Zwischen Ohnmacht und Impfmacht

Die Vakzin-Herstellung ist kompliziert. Hätte man das früher kommuniziert, wäre die Enttäuschung nun nicht so groß. Sicher ist: Der Winter wird sehr lang.

Kommentar von Stefan Kornelius

Aus Sicht der Teilnehmer hat der Impfgipfel von Bund, Ländern und Industrie zwei vorteilhafte Effekte: Er schafft den Eindruck einer gewaltigen Entscheidungsmaschine, die - sollten alle Rädchen ineinandergreifen - auch tatsächlich funktioniert. Und er zwingt alle Teilnehmer zu einem Konsens. Der mag schwach sein und nicht lange halten, aber zumindest für einen Moment sind alle Akteure mitgefangen und mitgehangen.

So entsteht der Eindruck, dass Beschaffung und Verteilung der Impfstoffe einer höheren Gesetzmäßigkeit folgen, der sich eine Kanzlerin, ein Super-Söder und ein Biontech-Manager zu fügen haben. Keiner schuld, nix zu machen - geduldig bleiben. Das ist die unbefriedigende, aber möglicherweise korrekte Botschaft an jeden ausgelaugten Staatsbürger, der nichts anderes ersehnt als ein schnelles Ende dieses Albtraums.

Korrekt ist die Botschaft wohl deswegen, weil man in der Abwägung der wichtigsten Argumente tatsächlich immer wieder auf objektive Gründe stößt, die ein schnelleres Verfahren verhindern: Das Vakzin zu entwickeln, war kompliziert; bis tief ins vergangene Jahr gab es keine sicheren Impfstoff-Kandidaten; die Produktionskapazitäten aufzubauen, ist langwierig und nicht so einfach auf andere Firmen zu übertragen; es fehlen Rohstoffe. Kurzum: Keiner auf dem Impfstoffgipfel hat einen Grund, die Produktion zu verzögern - was getan werden kann, wird getan. Dennoch bleibt die Frage, ob Fehler aus der Vergangenheit zu verantworten sind.

Die USA haben es gezeigt: Impfstoff lässt sich schneller beschaffen

Die Frage ist berechtigt. Großbritannien, die USA und auch Israel haben vorgemacht, wie sich die Stoffe bereits jetzt schon in größeren Mengen beschaffen lassen. Besonders die USA haben gezeigt, wie das funktioniert: Sehr früh wurden nationale Produktionskapazitäten aufgebaut, finanziert und zur nationalen Belieferung verpflichtet - auch auf das Risiko hin, dass diese Investition schiefgehen könnte.

Die Details der britischen und israelischen Verträge sind nicht bekannt. Wahrscheinlich ist aber, dass diese Länder durch hohe Zahlungen sehr frühzeitig eine verpflichtende Erstbelieferung erkauft haben. Der Vertrag - etwa im britischen Fall bei Astra Zeneca - mag im Widerspruch zu den europäischen Verträgen stehen und insofern auf eine grobe Irreführung durch den Hersteller hindeuten. Vermutlich aber würde die Lösung dieses Streits länger dauern als das Impfprogramm für ganz Europa.

Das Investitionsrisiko für eine frühe Impfproduktion ist die Europäische Union jedenfalls nicht eingegangen. Entweder war sie desorganisiert und unerfahren - und somit überfordert. Dafür spricht, dass die Kommission keine tiefe Kompetenz in Gesundheitsthemen und bei gewaltigen öffentlichen Beschaffungsvorhaben hat. Oder sie handelte bewusst defensiv, auch aus Kostengründen. Schließlich gehe es auch darum, öffentliches Geld verantwortungsvoll einzusetzen, heißt es dann immer. Das wäre freilich eine fatale Fehleinschätzung gewesen angesichts der volkswirtschaftlichen Kosten, die Corona auftürmt. Jetzt hat die Kommissionspräsidentin eine Finanzierung zugesagt - das kann man auch als Zeichen der Zerknirschung werten.

Deutschland konnte und durfte nicht alleine handeln

Täglich präsentieren nun die Statistiker den Medaillenspiegel des globalen Impf-Olympias. Und täglich werden die EU und ihre Kommission mit Schimpf und Schande belegt, vor allem aus Großbritannien, wo man sich auf die geschwellte Brust trommelt und so kurz nach dem Brexit den Sieg über das europäische System erklärt; nach dem Motto: Gut also, dass wir ausgetreten sind.

Das ist freilich ein geradezu kindisches Gebaren einer Nation, die sich viele Jahre eingeredet hat, dass sie ihr Schicksal auf der Welt alleine bestimmen kann. Das ist natürlich kurzsichtig, Triumphalismus führt zu Verhärtungen auf der Gegenseite. Britain first ist die Parole der Gestrigen - sie kann morgen schon an Supermarktregalen enden, in denen bisher spanisches Gemüse oder Alpenmilch-Schokolade lagen.

Für Deutschland als europäische Führungsnation gab es diese nationale Option nicht. Als der Kommission die Impfstoffbeschaffung für alle 27 Länder übertragen wurde, warb die deutsche Ratspräsidentschaft um Zustimmung für den Haushalt, den Corona-Hilfsfonds, die Brexit-Politik und den Rechtsstaatsmechanismus. Ein nationaler Alleingang hätte in diesem Augenblick einen unermesslichen Kollateralschaden verursacht.

Rationale Gründe gibt es also mehr als genug, die Impfpolitik als perfekten Spiegel einer unperfekten Pandemiewelt zu betrachten. Das Schicksal des gebremsten Impftempos teilt Deutschland mit dem Rest der Welt - bei sehr wenigen Ausnahmen. Bei aller Ungeduld und Erschöpfung sind auch Wissenschaft und Technik Grenzen gesetzt. Wirten, Geschäftsleuten, Musikern und allen Pandemie-Müden mag das zu lakonisch klingen. Ihnen hätte man mit mehr politischem Mut schon viel früher die eigentliche Zumutung vor Augen führen müssen: Dies wird ein sehr langer Winter.

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