Süddeutsche Zeitung

Corona:Vom Zählen der Toten

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Sind Menschen gestorben, weil die Regierung bei der Impfstoffbeschaffung versagt hat? Ein FDP-Politiker behauptet das. Aber so einfach ist es nicht.

Kommentar von Nico Fried, Berlin

Der schwerste Vorwurf, den man Politik machen kann, lautet, dass durch Handeln oder Unterlassen Menschen ihr Leben verloren haben. In der Diskussion um mangelnden Impfstoff schwingt dieser Vorwurf schon länger mit. Jetzt hat ihn Hermann Otto Solms klar gegen die Bundesregierung erhoben, immerhin ein früherer Bundestagsvizepräsident, der in mehr als 35 Parlamentsjahren nicht als Scharfmacher bekannt geworden ist.

Angela Merkel hört so etwas nicht zum ersten Mal. In der Euro-Krise machte die Linke ihre Sparpolitik dafür verantwortlich, dass in Griechenland Menschen starben. In der Flüchtlingskrise gaben ihr Rechte Mitschuld am Tod der Anschlagsopfer auf dem Berliner Weihnachtsmarkt oder an den Morden in Freiburg und Kandel. Noch nie aber hatte der Vorwurf des Regierungsversagens eine Dimension wie in der Impfdebatte, weil Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern schlecht aussieht und Schuldzuweisungen nach einem Jahr Corona-Krise in aufgerauter Stimmung leicht verfangen.

Kein Bürger wird dafür belangt, dass er andere angesteckt hat

Seine Bürger zu schützen, ist die wichtigste Aufgabe des Staates. Gelingt das nicht, muss sich die Politik rechtfertigen. Daran ist nicht zu rütteln. Trotzdem ist in der Corona-Krise der Kontrast zwischen Individuum und Staat besonders groß: Kein Bürger, egal wie viele Menschen er angesteckt hat, wird dafür belangt. Die Politik aber steht mit jeder Beschränkung und jeder Lockerung, mit jeder neuen Maske und jeder fehlenden Ampulle in der Verantwortung. Dabei ist bemerkenswert, wie uneingeschränkt die Erwartungshaltung an den Staat auch bei denen ist, die seinen Einfluss sonst gerne minimieren würden und von denen auch der FDP-Politiker Solms einige kennen dürfte.

Solms sagt, man könne ausrechnen, wie viele Menschen gestorben seien, weil wegen der Nachlässigkeit der Regierung ein bis zwei Millionen Impfstoffdosen fehlten. Kann man das? Lässt sich wirklich sagen, wie viele Dosen es heute in Deutschland gäbe, wenn sich die Bundesregierung im Alleingang um den Impfstoff bemüht hätte? Weiß man genau, ob zu einem Zeitpunkt, als noch nicht feststand, welcher Impfstoff das Rennen machen würde, der frühzeitige Aufbau von mehr Produktionskapazitäten bei vier, sechs oder acht Entwicklern möglich gewesen wäre, inklusive der Verfügbarkeit von Rohstoffen, der Sicherung von Lieferketten und qualifiziertem Personal?

Merkel, Spahn und von der Leyen müssen für Aufklärung sorgen

Es geht hier mitnichten darum, Politik zu entschuldigen. Es gibt schwere Zweifel am Bestellwesen der EU in der Verantwortung von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Es gibt berechtigte Fragen an Merkel und Gesundheitsminister Jens Spahn zu etwaigen Fehlern bei den Verhandlungen. Und richtig ist auch, dass alle drei sich um überzeugende Antworten weit mehr bemühen müssten als bisher. Wer aber behauptet, der Schaden für Leib und Leben wäre exakt zu kalkulieren, irrt. Einstweilen lässt er sich nur emotionalisieren.

Politik in Toten aufzurechnen, führt unweigerlich zu der Frage, wo man dieser Logik eine Grenze zieht. Wenn Merkel die Schuld trägt an fehlendem Impfstoff, darf sie dann andere Tote bei den Ministerpräsidenten anschreiben, die ihrer Forderung nach härteren Maßnahmen im Herbst nicht folgen wollten? Und wenn ja, wie viele? Die Diskussion über die Corona-Politik muss geführt werden. Aber es dient der Sache nicht, wenn man dabei über Leichen geht.

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