Tarifrunden haben eine Eigenart: Das Ergebnis muss hinreichend kompliziert sein. Komplexität eröffnet einen Deutungsspielraum, den Arbeitgeber wie Gewerkschafter für sich nutzen können. Sie können sich am Morgen nach einer langen Verhandlungsnacht hinstellen und erzählen, für ihre Seite das Bestmögliche herausgeholt zu haben. So war es auch am Dienstagmorgen in Düsseldorf, als müde blinzelnde Metaller vor die Presse traten. In sieben zähen Runden haben sie einen Abschluss ausverhandelt, der bald für die knapp vier Millionen Beschäftigten der Branche gelten soll.
Die IG Metall kann für sich verbuchen, den Arbeitgebern trotz wirtschaftlich schwieriger Zeiten Sonderzahlungen abgetrotzt zu haben. Die Beschäftigten bekommen in diesem und auch in den kommenden Jahren etwas mehr Geld. Die Arbeitgeber wiederum können darauf verweisen, dass die Erhöhungen deutlich geringer sind als in früheren Jahren. Angesichts der Corona-Krise und des historischen Umbruchs in der Autoindustrie - weg vom Verbrenner, hin zum Elektromotor - ist das gerechtfertigt. Ein weiteres Plus für die Arbeitgeber: Der Vertrag läuft deutlich länger, als die Gewerkschafter es wollten. Den Unternehmern gibt das "Planungssicherheit", wie sie häufig betonen.
Tarifrunden funktionieren auch in der Pandemie
Jenseits dessen hält die Tarifrunde zwei Einsichten bereit, die auch für Nichtmetaller interessant sind. Die erste: Tarifrunden funktionieren auch in Zeiten der Pandemie. Das ist keine lapidare Erkenntnis, wenn man bedenkt, dass das Coronavirus Grundrechte wie die Versammlungsfreiheit bedroht - und damit auch den Kampf der Arbeitnehmer für ihre Interessen.
Gewerkschaften müssen zu Streiks aufrufen, um ihre Mitglieder zu halten und Druck machen zu können. Dafür ist es wichtig, dass diese Mitglieder sich auch versammeln. Die IG Metall hat es geschafft, coronakonform zu streiken - per Livestream oder auch per Kundgebung im Auto, wo sich der Abstand gut einhalten lässt. Den Arbeitgebern wiederum ist anzurechnen, dass sie trotz der Krise zu Kompromissen bereit waren. Nach "gefühlt hundert Stunden und hundert Corona-Tests" wurde so ein Abschluss möglich, wie einer der Teilnehmer treffend sagte.
Die Vier-Tage-Woche weist über die Krise hinaus
Die zweite Erkenntnis: Ausgerechnet in einer Branche, der ein gewisses Malocher-Image anhaftet, wird statt Geld etwas anderes immer wichtiger: freie Zeit. Schon beim vorangegangenen Abschluss 2018 haben die Tarifparteien vereinbart, Mitarbeiter wählen zu lassen zwischen einer Sonderzahlung und zusätzlichen freien Tagen. Das führen sie jetzt mit der Vier-Tage-Woche fort: In Firmen, in denen es schlecht läuft, sollen die Beschäftigten ihre Arbeitszeit reduzieren und einen Teil des Lohnausfalls ausgeglichen bekommen. Das Kalkül: Wenn alle etwas weniger arbeiten, bleiben insgesamt mehr Jobs erhalten.
Die Vier-Tage-Woche ist somit ein Ausdruck der Krise, sie weist aber auch darüber hinaus. Im Kleinen setzt sie eine Entwicklung fort, die schon vor mehr als hundert Jahren begonnen hat: Die technische Entwicklung schreitet immer weiter voran, der Mensch arbeitet immer kürzer, zumindest in der Industrie. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass man sich die Arbeitszeitverkürzung leisten können muss. Metaller verdienen im Schnitt so viel, dass sie auch mit 34 bezahlten Wochenstunden (vier Tage plus Lohnausgleich) gut hinkommen. Altenpfleger zum Beispiel können davon nur träumen. Sie sind aber gewerkschaftlich auch lange nicht so gut organisiert wie die Metaller.