Süddeutsche Zeitung

Flutkatastrophe:Es ist zu früh für Schuldzuweisungen

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Die Schäden sind noch nicht beziffert, noch nicht einmal alle Opfer sind geborgen - da wollen einige schon wissen, wer für das Unglück verantwortlich ist. Doch was die Betroffenen jetzt wirklich brauchen, ist ehrliche Anteilnahme und Hilfe.

Kommentar von Joachim Käppner

Goethe hat den himmlischen Mächten vorgeworfen: "Ihr führt ins Leben uns hinein, / Ihr laßt den Armen schuldig werden, / dann überlasst ihr ihn der Pein. Denn alle Schuld rächt sich auf Erden." So eindrucksvoll schrieb der Dichter in "Wilhelm Meisters Lehrjahre", und würde er heute leben, könnte er noch einige Verse über ganz irdische Mächte anfügen: diejenigen nämlich, die als erstes andere zu Schuldigen erklären. Es konnte nach der Hochwasserkatastrophe nicht ausbleiben, dass - während noch Menschen vermisst werden und die letzten Toten noch nicht geborgen sind - umgehend das Blame Game beginnt, das politische Ritual wechselseitiger Schuldzuweisungen.

Natürlich: Die Opfer der Flut, die Angehörigen der Toten und Vermissten haben jedes Recht zu erfahren, welche Versäumnisse es zuvor gab, ob die Warnungen zu spät eintrafen und ob der Hochwasserschutz nicht viel wirksamer hätte organisiert werden können. Familien sind zerbrochen, Existenzen zerstört, viele Menschen stehen vor dem Nichts, und sie wollen Erklärungen. Das ist so legitim wie verständlich. Nur hilft es ihnen wenig, wenn die üblichen Verdächtigen schon alles wissen wollen, bevor wirklich belastbare Ergebnisse von Untersuchungen vorliegen, die ja gerade erst begonnen haben.

Voreilige Bezichtigungen erschweren nur die Aufklärung

So bezichtigt die berühmte Umweltpartei FDP Innenminister Horst Seehofer (CSU) schwerster Versäumnisse bei der Weitergabe der meteorologischen Warnungen, ihr Fraktionsvize spricht im Stile eines Verschwörungsfabulierers von "Systemversagen". Die Linke, in seltener Eintracht mit den Wirtschaftsliberalen, verlangt Seehofers Rücktritt. Viele Schnellschuss-Kritiker gebärden sich, als habe das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe vollkommen versagt, dort wiederum will man eigentlich alles richtig gemacht haben. Und so fort.

Entsetzliche Unglücke wie in Ahrweiler, Erftstadt und vielen anderen Orten sind aber keine Ereignisse, für die man einfach den politischen Gegner verantwortlich machen kann, auch nicht im Wahlkampfjahr. Es ist die eine Sache, den Unionskanzlerkandidaten Armin Laschet für sein Lachdebakel zu kritisieren, den würdelosen Auftritt im Rücken des Bundespräsidenten hat er sich allein selbst zuzuschreiben. Aber anders verhält es sich mit den komplexen Zusammenhängen von Klimawandel, Umweltschäden und Hochwasserschutz. Hier verbieten sich voreilige Bezichtigungen, weil sie die Aufklärung nur erschweren.

Die gute Nachricht: Die Hilfsbereitschaft der Menschen ist groß

Als sicher kann wohl nur gelten, dass solche Unwetter infolge des Klimawandels wahrscheinlicher werden und dass die von Umweltverbänden schon lange gerügte Versiegelung von natürlichem Grund, der Wasser aufnehmen könnte, ein Faktor für die Flut war, wenn auch noch unklar ist, in welchem Maße; dass Häuser zu nahe am Wasser gebaut und zu viele Auenlandschaften zerstört wurden. Hier wird künftig viel zu ändern sein. Auch der Versicherungsschutz ist für Betroffene offenkundig völlig unzureichend organisiert. Aber vorrangig ist es, den Opfern des Hochwassers schnell zu helfen, die gewaltigen Schäden zu beseitigen und das Schicksal der Vermissten zu klären. Dann kann die Aufarbeitung beginnen, wer für welche Fehler verantwortlich sein mag, und nicht umgekehrt.

In all dem Grauen gibt es aber auch eine gute Nachricht: die ungeheure Hilfsbereitschaft von Nachbarn, Bürgern, Freiwilligen, der selbstlose Einsatz der Feuerwehr und der anderen Katastrophenhelfer. Für einen Moment ist es, wie es Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ausdrückt: "In der Stunde der Not steht unser Land zusammen." Daran wird man sich, hoffentlich, noch erinnern, wenn das Blame Game lange vergessen ist.

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