MeinungParteitag:Bei aller Euphorie müssen die Grünen dringend aus Fehlern lernen

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Kommentar von Jens Schneider

Lesezeit: 3 Min.

Ricarda Lang führt künftig gemeinsam mit Omid Nouripour die Grünen.
Ricarda Lang führt künftig gemeinsam mit Omid Nouripour die Grünen. (Foto: Kay Nietfeld/dpa)

Bei der Bundestagswahl blieb die Partei weit unter ihren Erwartungen. Nun hat sie zwei neue Vorsitzende - und die haben eine klare Aufgabe.

Der Parteitag der Grünen begann mit einer Euphorie, die nahe an der Überdosis lag. Zu spüren war: Für viele ist dies ein großer Moment. Aber sehen sie auch, dass dies zugleich ein gefährlicher Moment ist? Euphorie kann tückisch sein. Die Grünen müssen aufpassen, dass sie nicht in die Falle ihrer eigenen Begeisterung und ihrer großen Freude am Regieren spazieren. Es besteht für sie das Risiko, dass sie zu wenig aus Fehlern und Mängeln lernen, die ihnen 2021 im Bundestagswahlkampf ein mögliches besseres Wahlergebnis verhagelt haben. Hier liegt eine große Aufgabe für die zwei neuen Vorsitzenden Ricarda Lang und Omid Nouripour, die an diesem Samstag gewählt wurden - beide mit einem beachtlichen Ergebnis. Sie müssen Antworten auf inhaltliche, aber auch strukturelle Mängel der Partei finden.

Die Grünen sind, das ist ein Verdienst vor allem der bisherigen Vorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck, enorm schnell gewachsen. Das gilt für die so imponierend gewachsene Zahl der Mitglieder wie für die enorme Zahl an Grünen in politischer Verantwortung - mit so vielen Ämtern in Regierungen und Verwaltungen wie noch nie, im Bund, in den Ländern, in Städten und Landkreisen und Gemeinden. Ausgiebig feierten die Grünen diesen Aufschwung auf diesem virtuellen Parteitag - also sich selbst. Da zählten Rednerinnen auf, wie großartig all diese Aufgaben seien. Stolz bestätigten sie einander, dafür die besten Konzepte zu haben. Diese Begeisterung mag ihnen helfen. Sie kann eine Antriebskraft für die mühsame politische Alltagsarbeit sein. Zu spüren war, dass viele von ihnen, gerade die jungen Abgeordneten im Bundestag diesen Zauber des politischen Aufbruchs zum ersten Mal erleben.

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Die Grünen haben im letzten Jahr gesehen, wohin es führen kann, wenn sie sich von ihrer eigenen Euphorie überwältigen lassen und die Fallstricke auf ihrem Weg nicht vorausahnen. Die Partei ging im Frühjahr in den Bundestagswahlkampf mit dem Gefühl, als ob es immer nur nach oben gehen könnte. Imponierend professionell präsentierten sie ihre Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock. Aber nur wenige Tage später erwies sich diese Kandidatur als schlecht vorbereitet, was niemand allein der Kandidatin anlasten sollte.

Es war offenkundig versäumt worden, mögliche Angriffspunkte rechtzeitig selbst zu suchen und sich für Attacken zu wappnen. Die Führung der Grünen und ihr Stab wirkten überrascht von der Welle der Kritik und böser Häme. Einer Welle, mit der sie hätten rechnen müssen. Auf Fehler folgten fehlende oder unzureichende Reaktionen. Sie gerieten in die Defensive, obwohl diese Partei und ihre Kandidatin doch die Herausfordererin sein wollte. Anstatt eigene Schwerpunkte zu setzen, mussten sie ständig reagieren und fanden sich in dieser Rolle lange nur schwer zu Recht. Erschrocken bangten sie im Sommer, sie könnten alles verlieren, was sie schon sicher glaubten.

Der Blick richtete sich auf Annalena Baerbock, die Kanzlerkandidatin. Das Problem der Partei schien aber zu sein, dass ihr insgesamt die Mittel und die Konzepte fehlten, die Ideen und auch die Strukturen, um angemessen zu reagieren, als es eng wurde. Ihre Bedeutung hatte sich verdoppelt, die Kapazität der Partei aber nicht. Nun würde es den Grünen wenig helfen, über die Eignung des Personals des letzten Jahres zu debattieren. Aber das kann nicht bedeuten, die Fehler und Mängel zu ignorieren. Sie müssen inhaltlich und strukturell einiges klären.

Nouripour bei seiner Bewerbungsrede.
Nouripour bei seiner Bewerbungsrede. (Foto: Kay Nietfeld/dpa)

Omid Nouripour hat in seiner Bewerbungsrede klar das Ziel formuliert: Die Partei müsse bis zum Ende des Jahres die Strukturen haben, "die die neue Größe der Partei braucht", sagte er. Es gehe um Strukturen, die den Grünen ermöglichen, beim nächsten Mal wieder in der K-Frage mitzuspielen, also wenn es um die Kanzlerschaft geht. Und der neue Vorstand werde den Wahlkampf zusammen nacharbeiten, "um das nächste Mal noch erfolgreicher zu sein".

Auf diesem Parteitag ist diese Frage bisher weitgehend weggedrückt worden. Ein Antrag auf die Einrichtung einer Kommission zur Aufarbeitung des Wahlkampfs fand einige Zustimmung, scheiterte aber letztlich. Vom bisherigen Parteichef Habeck wurde auf die neuen Vorsitzenden verwiesen, die sich stattdessen kümmern sollen. Ricarda Lang und Omid Nouripour dürften spüren, dass es an der Basis Unruhe gibt.

Eine inhaltlich deutliche Kritik hat als fast einziger Winfried Kretschmann geübt, der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Seine Rede spiegelte seine grün-konservative Sicht wider, er beklagte eine Verengung des Wahlkampfs. Die Partei habe sich klein gemacht, zu wenig um die Wirtschaft gekümmert und den Wunsch vieler Menschen, neben der Veränderung auch Sicherheit zu spüren.

Diese Kritik muss nicht repräsentativ für die Partei sein. Bei einem richtigen Parteitag, mit mehreren hundert Menschen im Saal hätte Kretschmanns Rede wohl einige Unruhe ausgelöst. Ein Sirren auf und zwischen den Gängen, in dem sie diskutiert und interpretiert worden wäre. Nun aber ging kaum jemand darauf ein, und es ist schwer einzuschätzen, ob Kretschmann eine breitere Stimmung wiedergibt. Sicher ist aber, dass es den Wunsch gibt, Versäumnisse und Fehler des Wahlkampfs aufzuarbeiten. Ein sehr berechtigter Wunsch, der für die neuen Vorsitzenden eine dringliche Aufgabe ist, weil schon bald die nächsten großen Wahlkämpfe anstehen und eine Fortsetzung der Euphorie alles andere als eine Selbstverständlichkeit ist. Wie schnell die verfliegen kann, haben sie im letzten Jahr erlebt.

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