Großbritannien:Der "Tag der Schande" ist auch ein Tag der Chance

Labour-Chef Starmer geht hart gegen seinen Vorgänger Corbyn vor, weil dieser Antisemitismus in der Partei duldete. Das ist mutig von Starmer und erlaubt es Labour, sich wieder Richtung Mitte zu orientieren.

Von Alexander Mühlauer, London

Unter dem Vorsitz von Jeremy Corbyn hat die britische Labour Party jahrelang Antisemitismus geduldet und verharmlost. So lautet das Urteil der unabhängigen Kommission für Gleichheit und Menschenrechte im Vereinigten Königreich. Es ist ein Urteil, das keinen Spielraum für Interpretationen zulässt. In der größten sozialdemokratischen Partei Europas wurden jüdische Mitglieder über Jahre hinweg diskriminiert und belästigt. Labour hat damit gegen das Gesetz verstoßen. Corbyns Nachfolger an der Parteispitze, Keir Starmer, hat deshalb das gesagt, was gesagt werden musste: Der Tag, an dem dieser Untersuchungsbericht veröffentlicht wurde, war ein "Tag der Schande" für Labour.

Sein Vorgänger Corbyn hätte an diesem Tag die Chance gehabt, endlich das einzugestehen, wozu er in seinen fünf Jahren als Labour-Chef nicht in der Lage war: dass es Antisemitismus in dieser Partei gibt und dass es seine Verantwortung gewesen wäre, dagegen mit aller Härte vorzugehen. Corbyn hat das nicht getan. Stattdessen tut er den Schmerz, den Juden in seiner Partei erfahren haben, als Lappalie ab. Es ist schier ungeheuerlich, wenn Corbyn seinen politischen Gegnern und den Medien nun vorwirft, sie hätten das Ausmaß des sogenannten Antisemitismus-Problems "dramatisch überbewertet". Dieses Verhalten ist beschämend. Starmer hat darauf die richtige Antwort gegeben und Corbyns Parteimitgliedschaft ausgesetzt.

Mit diesem Schritt bricht der Labour-Chef nicht nur mit seinem Vorgänger, sondern auch mit dem linken Flügel seiner Partei, der Corbyn noch immer wie einen Popstar verehrt. Starmer provoziert ganz bewusst einen Aufstand, von dem er nicht wissen kann, wie er ausgeht. Indem er den linksradikalen Kräften den Kampf angesagt hat, riskiert er die Spaltung der Partei. Starmer hat klargemacht, wo er die Zukunft von Labour sieht: Er will die Partei zurück in die politische Mitte bringen. Das ist der richtige Weg, denn unter Boris Johnson haben sich die Tories immer weiter von dieser Mitte entfernt.

Einfach wird dieser Weg nicht. Noch immer gilt es, die schwerste Wahlniederlage seit 1935 aufzuarbeiten, die Corbyn seiner Partei bei der jüngsten Unterhaus-Wahl zugefügt hat. Viele einstige Stammwähler wandten sich nicht nur deshalb von Labour ab, weil der damalige Parteichef Antisemitismus in den eigenen Reihen duldete, sondern auch wegen dessen unentschlossener Haltung zum Brexit und seiner radikalen Verstaatlichungspläne, die schlichtweg nicht mehrheitsfähig waren.

Mit Starmer an der Spitze liegt Labour in den Umfragen wieder auf Augenhöhe mit den Tories. Doch diese Stärke hat kaum mit Inhalten zu tun, sondern vor allem mit der Schwäche des Premiers. Starmer tut gut daran, Boris Johnson weiter als unzuverlässigen und überforderten Regierungschef darzustellen. Das allein genügt aber nicht, um die verloren gegangenen Wahlkreise im ehemals roten Nordengland zurückzuerobern.

Die drohende Wirtschaftskrise bietet Labour nun die Chance, der Bevölkerung ein Angebot gegen die wachsende Ungleichheit im Land zu machen. Es geht um Jobs, Bildungschancen, bezahlbaren Wohnraum und eine Post-Brexit-Vision. Nicht zuletzt geht es auch um eine Veränderung in der politischen Kultur. Nach den aufreibenden Brexit-Jahren gibt es eine Sehnsucht nach mehr Ruhe. Genau das verspricht Starmer. Doch erst einmal muss er in seiner eigenen Partei für Ruhe sorgen.

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