Süddeutsche Zeitung

Pandemie:Gewerkschaften, eine bedrohte Art

In der Pandemie haben IG Metall und Co. viel erreicht. Trotzdem verlieren sie Mitglieder. Sie brauchen Staatshilfe - allerdings nicht in Form von Geld.

Kommentar von Benedikt Peters

Als 2020 das Jahr des Coronavirus wurde, hätte man erwarten können, dass es auch das Jahr der Gewerkschaften würde. Die Pandemie brachte nicht nur Leid übers Land, sondern auch dringliche Fragen zum Thema Arbeit: Welche Rechte habe ich, wenn mich der Chef in Kurzarbeit schickt? Wer zahlt den Strom im Home-Office? Wer kämpft für mich, wenn ich Gefahr laufe, meinen Job zu verlieren? Die Gewerkschaften haben um Antworten gerungen, sie haben für die Arbeitnehmer gestritten, und sie hatten durchaus Erfolg. Dass der Sozialstaat sehr viel Geld ausgibt, um gerade Menschen mit niedrigen Einkommen zu schützen, ist auch ihr Verdienst.

2020 wurde trotzdem nicht zum Jahr der Gewerkschaften. Reiner Hoffmann, der Chef des Deutschen Gewerkschaftsbunds, verkündete am Mittwoch schlechte Zahlen. Fast alle großen deutschen Gewerkschaften haben Mitglieder verloren - trotz all der Fragen, Sorgen und Kämpfe zum Thema Arbeit. Insgesamt kommen die acht DGB-Gewerkschaften jetzt noch auf 5,8 Millionen Mitglieder. Bei den Jüngeren ist der Rückgang besonders stark.

Ohne Mitglieder sind Gewerkschaften nichts

Die Mitgliederentwicklung von Gewerkschaften ist kein Detail für Hobby-Historiker der Bundesrepublik. Sie ist ein Qualitätskriterium für die Demokratie. Nur wenn Gewerkschaften Massen mobilisieren, wenn sie zumindest theoretisch Betriebe lahmlegen können - nur dann haben sie Verhandlungsmacht. Nur dann findet ein Ausgleich der Interessen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern statt. Dieser Ausgleich ist wesentlich für eine Demokratie, die ja auf Mitmachen und Kompromiss beruht.

Einige Gründe für den Schwund bei den meisten Gewerkschaften liegen auf der Hand, und sie sind auch nicht alle besorgniserregend. Die IG Bau etwa hat besonders viele Mitglieder im Ruhestand, und da jedes Leben irgendwann einmal endet, schlägt sich das auch in der Bilanz nieder. In der Autobranche vollzieht sich mit der Umstellung von Verbrenner- auf umweltfreundlichere Motoren ein Jahrhundertumbruch, der Jobs kostet - und damit die IG Metall etliche Mitgliedschaften. In anderen Branchen schrumpfen die Jobs wegen der Pandemie. Gut möglich, dass diese Ex-Mitglieder zurückkommen, wenn sich die Wirtschaft wieder erholt.

Wie nur soll man die Leute ansprechen und anwerben?

Andere Gründe für den Schwund aber geben sehr wohl Anlass zur Sorge. Sie haben auf ganz andere Weise mit der Pandemie zu tun. Diese zwingt die Menschen zum Abstandhalten, selbstverständlich auch Gewerkschafter. Es ist viel schwieriger für sie, Berufseinsteiger als Mitglieder zu werben, wenn der Betrieb leer ist. Ebenso schwierig ist es, Versammlungen zu organisieren, zum Beispiel, um Forderungen für eine Tarifrunde zu diskutieren. Man könnte einwenden, dass das doch auch wunderbar per Videokonferenz gehe. Das aber verkennt, dass es bei solchen Terminen nicht nur um Inhalte geht. Es geht um die Vermittlung des Gefühls, gemeinsam stark zu sein. Das ist es, woraus Gewerkschaften ihre Kraft beziehen.

Insofern hat die Pandemie für die Gewerkschaften eine Bedrohung heraufbeschworen, deren Tücke darin besteht: Sie wird selbst dann noch anhalten, nachdem das Virus besiegt ist. Corona hat die Digitalisierung der Arbeitswelt beschleunigt. Nach der Pandemie werden deutlich mehr Menschen zu Hause oder unterwegs arbeiten als vorher.

Sie bräuchten einen Zugang zum Intranet

Für die Gewerkschaften ist es wichtig, auch diese Menschen zu erreichen. Sie brauchen dabei Hilfe durch den Gesetzgeber. Das, was der bisher beschlossen hat, reicht bei Weitem nicht: Betriebsräte dürfen zeitlich befristet online tagen und online Beschlüsse fassen. Sie sollen auch ein Mitspracherecht beim Home-Office bekommen. Wie sie aber dauerhaft Kontakt zu den Beschäftigten halten sollen? Dazu ist nichts in Sicht. Das Mindeste wäre, die Arbeitgeber zu verpflichten, eine digitale Anlaufstelle zum Betriebsrat und zur Gewerkschaft zu schaffen, zum Beispiel über das Firmen-Intranet.

Doch das wird kaum reichen. Gewerkschaften müssen selbst Strategien entwickeln, um digital Kontakt zur Belegschaft zu halten. Auch was ihnen bisher eingefallen ist - eine bunte Internetseite und virtuelle Stammtische - , ist zu wenig. Helfen würden mehr junge Gewerkschafter sowie vor allem Gewerkschafterinnen, die in der Öffentlichkeit sichtbar sind - und die sich nicht verschanzen hinter Fachwörtern und Abkürzungen. Statt "AVE" (Allgemeinverbindlichkeitserklärung) sollten sie lieber sagen, was das meint: Ein Tarifvertrag soll für alle gelten.

Wie es gehen könnte, ist bei Verdi zu beobachten. Die Gewerkschaft focht im Herbst unter Pandemiebedingungen eine Tarifrunde für die Beschäftigten des Bundes und der Kommunen durch. Sie setzte auf eine Online-Kampagne mit vielen Köpfen und einer klaren Botschaft: Erzieherinnen und Pfleger haben in der Pandemie geliefert, jetzt brauchen sie bitte auch höhere Löhne, und nicht nur Applaus. Am Ende gab es bis zu zehn Prozent mehr Geld, und für Verdi eine Belohnung: Sie konnte als eine der wenigen Gewerkschaften ihre Mitgliederzahl stabil halten.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5202115
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ/de
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.