Süddeutsche Zeitung

Geschichtsdebatte:Öffnung zur Welt

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Deutschland läuft Gefahr, im Diskurs über die Vergangenheit hermetisch und provinziell um sich selbst zu kreisen und die Leidensgeschichte anderer auszublenden. Der Beschluss des Bundestags gegen die israelkritische Boykottbewegung BDS ist ein Beleg dafür.

Kommentar von Sonja Zekri

Von Woody Allen stammt der Witz, immer wenn er Wagner höre, verspüre er die unbändige Lust, in Polen einzumarschieren. Woody Allen ist Jude und sein Rollenspiel der souveräne Spott über die deutsche Verbindung von kulturellem Überlegenheitswahn und Blitzkrieg. Würde Alexander Gauland Derartiges sagen, es wäre widerwärtig, vielleicht sogar justiziabel.

Es ist also nicht egal, wer spricht, nicht für den Blick auf die deutsche Vergangenheit, nicht für den Blick auf Israel. Unterschiedliche historische Erfahrungen und historische Verantwortungen können für die Bewertung des Gesagten entscheidend sein.

Nichts anderes als der Wunsch nach einer solchen Differenzierung steht im Kern des jüngsten Appells deutscher Kulturinstitutionen, den sie unter dem bürokratischen Titel "Plädoyer der Initiative GG 5.3 Weltoffenheit" veröffentlicht haben - ein halbes Jahr nach der Debatte um den kamerunischen Historiker Achille Mbembe.

Die Großen des Betriebes, darunter Goethe-Institut, Berliner Festspiele und Deutscher Bühnenverein, haben zusammen mit den Münchner Kammerspielen oder dem Haus der Kulturen der Welt in Berlin ein tiefes Unbehagen über die aktuelle Debattenkultur zum Ausdruck gebracht. Sie betrachteten es als ihre Aufgabe, "die Besonderheiten der deutschen Vergangenheit" in der ganzen Welt "verantwortungsvoll zu vermitteln". Dafür müsse aber eine Vielfalt an jüdischen und nicht europäischen Positionen zu Wort kommen. Die Anwendung des Bundestagsbeschlusses gegen die israelkritische Boykottbewegung BDS sei dafür so wenig hilfreich wie nicht belegte Antisemitismusvorwürfe.

Am Mittwoch haben sich jetzt mehr als tausend Künstlerinnen und Künstler aus Deutschland, Israel und vielen anderen Ländern mit den Weltoffenheits-Initiatoren solidarisiert. Auch sie beklagen ein "Klima der Zensur" und der Selbstzensur in Deutschland, ausgelöst durch die "Verleumdung" von Künstlern und Wissenschaftlern aus dem globalen Süden durch falsche Antisemitismusvorwürfe. Der Bundestag müsse den BDS-Beschluss zurücknehmen, fordern Literaten und Künstler wie Ingo Schulze, Eva Menasse und Adam Szymczyk, Eva Illouz, Matthias Lilienthal und Eyal Weizman.

Man kann den Unterzeichnern beider Schreiben vorwerfen, dass sie einen schlechten Zeitpunkt gewählt haben - im jüdischen Chanukka-Fest, in der Lähmung des Lockdowns. Man könnte ihnen vorhalten, dass sie sich ziemlich viel Zeit gelassen haben nach ihrem Schweigen zu den Angriffen auf den einst von ihnen gefeierten Achille Mbembe. Die gängigste Kritik an den beiden Erklärungen aber ist eine, die angesichts der schieren Anzahl der Unterzeichner und der Summe der beschriebenen Erfahrungen schlechterdings unlogisch ist: die Behauptung, sie alle bildeten sich eine Gefahr für die Meinungsvielfalt nur ein, in Wahrheit sei da nichts.

Der BDS-Beschluss entscheidet mit über die Vergabe von öffentlichen Mitteln an Kulturinstitutionen. Der Antisemitismusvorwurf ist keine ergebnisoffene Meinungsäußerung, sondern läuft auf die Aberkennung der Diskursfähigkeit hinaus. Für staatlich geförderte Kulturinstitutionen und ihre Protagonisten sind das reale Risiken.

Die Pandemie hat neue Varianten uralter antisemitischer Feindseligkeiten zum Vorschein gebracht, die einem die Sprache verschlagen. Impfen als Instrument einer jüdischen Weltverschwörung, im Ernst? Diesem dräuenden antisemitischen Auftrumpfen wollen auch die Weltoffenheits-Initiatoren entgegentreten, und als wichtiges Instrument betrachten sie die Öffnung für andere historische Erfahrungen.

Die Frage "Wer spricht?" stellt sich damit in neuer Brisanz. Wenn die israelische Künstlerin Yehudit Yinhar ihre Ausstellung über Israels Besatzung in einer Berliner Kunsthochschule nicht zeigen kann, weil deutsche Politiker ihr Antisemitismus unterstellen, hat sich etwas auf ungute Weise verkehrt. Wie glaubwürdig ist es, wenn sich Berlin im Humboldt Forum mit Kunstschätzen und Trophäen einer bislang kaum aufgearbeiteten Kolonialzeit umgibt, aber dann entscheiden möchte, ob afrikanische Intellektuelle die Apartheid mit der Besatzung der Palästinensergebiete vergleichen dürfen?

Warum sollen Nachfahren der Täter der Kolonial- und der NS-Zeit entscheiden, welches Leid mehr wiegt?

Die Vermeidung solch kontroverser Fragen schützt nicht, sondern schadet. Nicht nur im globalen Süden wird das hermetisch und etwas provinziell um sich selbst kreisende Deutschland zunehmend als empathielos betrachtet. Warum sollen ausgerechnet die Nachfahren der Täter der Kolonial- und der NS-Zeit entscheiden, welches Leid mehr wiegt als das andere?

Es hat Jahrzehnte gedauert, bis Deutschland nach dem Krieg sein Selbstmitleid überwand und sich den Verbrechen des Holocaust gestellt hat. Allmählich verstummen auch die letzten Zeitzeugen, während Generationen von Zuwanderern andere historische Perspektiven und manchmal auch andere Ressentiments mitgebracht haben. Wer sie gewinnen will für die besondere deutsche Verantwortung für Israel, der muss offen bleiben für die Schmerzen aller.

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