Süddeutsche Zeitung

USA:Rassentrennung, Version 2021

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Ein Jahr nach dem Mord an George Floyd: Amerika erlebt eine Abrechnung. Doch viele Weiße scheuen die Konsequenzen.

Kommentar von Hubert Wetzel

Manchmal ist ein Schock nötig, eine tiefe Erschütterung, die den Alltag zerreißt, damit Menschen tatsächlich sehen, was sie eigentlich längst wissen. So war das vor einem Jahr, als George Floyd getötet wurde.

Jeder Amerikaner, der drei, vier Zahlen lesen und zueinander ins Verhältnis setzen kann, wusste auch vor dem 25. Mai 2020 schon, dass Schwarze überproportional oft Opfer von Polizeigewalt werden. Das steht in allen einschlägigen Statistiken. Aber Floyd unter dem Knie des weißen Polizisten Derek Chauvin sterben zu sehen, war etwas anderes. Die Amerikaner wurden Zeugen eines rassistischen Mordes, bei dem der Mörder sich offensichtlich sehr sicher fühlte, weil er eine Uniform trug. Und zum ersten Mal wurde einer Mehrheit der Weißen in den USA wirklich klar, dass die Gefahr, ein Zusammentreffen mit der Polizei nicht zu überleben, für ihre schwarzen Mitbürger eben kein statistisches Problem ist, sondern die furchtbare Realität.

Alles besser als "früher"? Na ja

Seither erlebt Amerika, was man dort als reckoning bezeichnet - eine Abrechnung. Die Gesellschaft beschäftigt sich mit dem Rassismus, der in ihr steckt. Das tut weh, weil es ein schmerzhaftes Thema ist. Und es ist schwierig, weil das Leid und die Wut, die sich bei den Schwarzen angestaut haben und die sich voriges Jahr mancherorts auch in Gewalt entluden, aufseiten der Weißen oft genug auf Abwiegelung treffen, auf die Beschwichtigung, im Vergleich zu früher sei doch alles viel besser geworden. Das mag stimmen, wenn man mit "früher" die finsteren Zeiten von Sklaverei und Rassentrennung meint. Aber das macht es nicht erträglicher, dass Afroamerikaner nach allen gängigen Maßstäben immer noch benachteiligt sind.

Was der Kongress nicht beschließt: zum Beispiel ein Polizeigesetz

Es gibt auch das gegenteilige Phänomen: billige Solidarisierung, die vor allem das eigene Gewissen beruhigen, aber nicht gesellschaftliche Zustände verändern soll. Amerikas linksliberale Elite pflanzt sich gerne "Black Lives Matter"-Schilder in die Gärten. Aber von dem "weißen Privileg", das sie so beklagt, profitiert sie vermutlich mehr als jeder rechte Hinterwäldler. Konzerne wie Amazon stehen bei Twitter fest an der Seite ihrer schwarzen Mitarbeiter. Wenn diese dann aber einer Gewerkschaft beitreten wollen, ist es vorbei mit der Unterstützung.

Vor sechzig Jahren war Amerika schon einmal in einer ähnlichen Lage wie heute. Die Unterdrückung der Schwarzen war damals schlimmer, in den Südstaaten war sie ein wesentlicher Teil der sozialen Ordnung. Aber es gab im Kongress eine politische Mehrheit, die willens war, die offene Diskriminierung der schwarzen Bürger gesetzlich zu verbieten - gesellschaftlichen Fortschritt zu erzwingen, anstatt nur dafür zu plädieren. Und es gab, wie Martin Luther King es in seiner berühmtesten Rede ausdrückte, den Traum von einem Amerika, in dem alle Menschen "nicht nach der Farbe ihrer Haut bewertet werden, sondern nach dem Wesen ihres Charakters".

Heute jedoch? Das Entsetzen über George Floyds Tod hat nicht dazu geführt, dass die Parteien in Washington ihren erbitterten Streit unterbrechen und zum Beispiel ein Polizeigesetz verabschieden. Die Bedeutung, welche Hautfarbe ein Mensch hat, nimmt in den USA nicht ab, sondern zu - race wird mehr und mehr wieder zur einer entscheidenden Kategorie gemacht. Das geschieht oft mit der guten Absicht, rassistisch motivierte Diskriminierung zu vermeiden. Aber es führt in der Praxis auch dazu, dass noch mehr Trennlinien die Gesellschaft zerteilen. Und es zementiert den Status der Schwarzen als ewige Minderheit.

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