Süddeutsche Zeitung

Freiheitsbeschränkungen:Reden, reden, reden

Es wäre verheerend, würde der Staat das öffentliche Leben zu früh wieder in Gang setzen. Aber diskutieren muss man über eine Lockerung der massiven Einschränkungen. Sonst könnte die Unterstützung in der Bevölkerung ganz schnell schwinden.

Kommentar von Detlef Esslinger

In einer Krise kommt es nicht nur darauf an, was und wann man den Leuten etwas sagt, sondern auch, wie man dies sagt. Eines von vielen Bonmots von Mark Twain lautet ja, dass der Unterschied zwischen einem richtigen und einem beinahe richtigen Wort so groß ist wie der zwischen einem Glühwürmchen und einem Blitz - womit man bereits bei Tobias Hans wäre, dem Ministerpräsidenten des Saarlandes. Eines der großen Themen in der Corona-Krise ist, wie lange die rigorosen Beschränkungen dauern sollen. Nach der Telefonkonferenz zwischen der Bundeskanzlerin und den 16 Ministerpräsidenten sagte Hans, sie alle seien sich "einig, dass es keine Debatte über eine verfrühte Lockerung geben darf". Zu hoffen ist, dass er mit dieser Wortwahl das Gespräch falsch wiedergegeben hat; dass er ein Hilfsverb wählte, das allenfalls das beinahe richtige Wort war. Eine Debatte, die es nicht geben darf?

Die Einschränkungen sind in der Geschichte fast aller Staaten beispiellos; auch in kaum einem dystopischen Roman kommt dergleichen vor. Die Debatte darüber, wann sie gelockert oder gar aufgehoben werden, darf es in einer Demokratie nicht nur geben, es muss sie sogar geben, und zwar gleich von Beginn an. Vielleicht war es indes keine Schlampigkeit im Ausdruck, sondern ein freudscher Versprecher, dass Hans das Hilfsverb "darf" herausgerutscht ist. Viele Politiker ängstigen sich nämlich vor dieser Debatte: wegen der vermuteten Eigendynamik. Sie möchten auf keinen Fall in eine Situation geraten, in der sie sich gegen jede Erkenntnis gezwungen sehen, Schulen und Geschäfte "verfrüht" zu öffnen, um den Ausdruck von Hans aufzugreifen - mit der Folge, dass das Virus danach nur Wochen brauchen würde, um massenweise Menschen niederzustrecken.

Doch eine solche Eigendynamik verhindert man nicht, indem man die Debatte abwürgt. Dann kommt sie erst recht. (Wer's nicht glaubt, muss sich nur in Erinnerung rufen, welche Partei entstanden ist, weil Merkel einige Entscheidungen in der Finanzkrise als "alternativlos" verkaufen wollte.) Der größte Schaden entstünde, wenn durch das Schweigen die Leute in die Annahme versetzt würden, sie müssten nur bis zum 19. April durchhalten, dann gehe das öffentliche Leben wieder los. Der 19. April ist ein politisch festgesetzter Termin. An dem Tag enden die Osterferien. Es handelt sich nicht um ein Datum, das mit dem Virus abgesprochen worden wäre.

Wem daran gelegen ist, dass die Menschen nach den Osterferien weiterhin mitziehen, der tritt eine transparente Diskussion am besten selber los. Armin Laschets Idee, in dem von ihm regierten Nordrhein-Westfalen einen "Expertenrat" aus zwölf Virologen, Juristen, Ökonomen, Soziologen und Unternehmern zu berufen, ist daher gar nicht so übel. Das Gremium soll "Szenarien für den Übergang zwischen Krisenmodus und Normalität" diskutieren. Es kann, zum Beispiel, aufbauen auf der Studie, die der Bonner Virologe Hendrik Streeck, ein Gremiumsmitglied, nun im Kreis Heinsberg zu Infektionsketten vornimmt, und die hoffentlich Wissen liefert, was man wohl doch erlauben kann und was nicht.

So lässt sich definieren, welche Maßnahme verhältnismäßig ist und welche es nicht wäre. Und je nachvollziehbarer jede einzelne Entscheidung ist, umso weniger braucht man eine Debatte darüber zu fürchten.

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Quelle:
SZ vom 03.04.2020
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