Als die Attentäter ihre Morde planten, analysierten sie zunächst das Leben. Sie suchten die Straßen, in denen zuverlässig gelacht, getanzt und gejubelt wurde. Am 13. November 2015 richteten sie ihre Maschinengewehre auf genau diese Ausgelassenheit. Im Konzerthaus Bataclan, in den Bars im Pariser Nordosten, vor dem Stade de France töteten sie in dieser Nacht 130 Menschen.
Die Kaltblütigkeit und die Brutalität der Täter waren ungeheuerlich. Aus ihnen sprach auch Kalkül: Sie wollten, dass die französische Gesellschaft auf Extremes extrem reagiert. Mit Hass, der keine Differenzierung mehr zulässt. Oder mit Stumpfheit, die das Leid der Hinterbliebenen und Überlebenden ignoriert, um einfach weiterzumachen. Der Terror sollte Paris und Frankreich so tief treffen, dass die Stadt und ihre Bewohner sich nicht wiedererkennen.
Fünf Jahre später bleiben die Terroristen gescheitert. Der 13. November ist in Paris nicht nur ein Symbol für die islamistische Bedrohung geworden, sondern auch für die Widerstandsfähigkeit der Stadt. Schon einen Tag nach den Morden saßen die Menschen wieder auf den Terrassen der Cafés. Aus Trotz, auch aus Verzweiflung - und weil sie wussten, dass sie zusätzlich zu Schmerz und Angst nicht auch noch Einsamkeit ertragen wollen.
Macrons Kampagne setzte einst auf Optimismus und Versöhnung
Wie unerschütterlich die französische Öffentlichkeit auf den Terror reagierte, zeigte sich 2017 auch bei der Präsidentschaftswahl. Ins Amt wurde ein Politiker gewählt, dessen Kampagne auf Optimismus und Versöhnung aufbaute: Emmanuel Macron. Sicher, Macron konnte nur gewinnen, weil sich ihm in der Parteienlandschaft ein Vakuum eröffnet hatte.
Dennoch bleibt es bemerkenswert, dass sich Frankreich mitten in einer Terrorserie für einen Präsidenten entschied, der im Wahlkampf auf nationalistisches Getöse verzichtete. Noch drei Tage vor der Stichwahl tötete ein Islamist einen Polizisten auf den Champs-Élysées. Die rechtsextreme Marine Le Pen konnte zwar ein erschreckend starkes Ergebnis erzielen, aber zu keinem Zeitpunkt hätte sie ernsthaft gewinnen können.
Im Jahr vier der Präsidentschaft Macron droht nun jedoch etwas Entscheidendes abhandenzukommen: jene Gelassenheit, die das Land stark macht. Die französische Regierung hat auf die neuesten Terroranschläge hart reagiert und unter anderem islamistische Vereine verboten, die den Rechtsstaat nicht anerkennen. Das ist richtig und schützt nicht zuletzt diejenigen Muslime, die in ihren Gemeinden von Radikalen eingeschüchtert werden. Doch im Kampf gegen diejenigen, die von der Regierung als "innere Feinde" ausgemacht werden, schießen Macron und seine Minister mit immer gröberem Schrot.
Macron übernimmt die abwägende Vermittler-Rolle
Ein neues Gesetz soll es verbieten, Bilder von Polizisten zu verbreiten, um die Beamten vor Übergriffen zu schützen. Gleichzeitig zeigen Videos der vergangenen Woche, wie Polizisten in Paris gegen 17-Jährige vor deren Schultor mit Tränengas und Schlagstöcken vorgehen. Das belegt, wie wichtig es sein kann, Beweise für unangemessene Gewaltanwendung durch Beamte zu sammeln.
Auch in Frankreichs ewigen Debatten um das muslimische Kopftuch hat sich Macrons Regierung nicht als zuverlässiger Partner der Gemäßigten erwiesen. Ginge es nach dem Bildungsminister, dürften muslimische Mütter nur dann Schulausflüge begleiten, wenn sie dafür ihr Kopftuch ablegen. Macron übernimmt dabei die Rolle des abwägenden Vermittlers, während die von ihm ausgewählten Minister härtere Töne anschlagen. So hat der Innenminister auf Twitter mit der persönlichen Maßregelung linker Aktivisten begonnen.
Die Bürger brauchen Vertrauen - der Präsident verkörpert es nicht
Fast schon fragil wirkte die Staatsführung, als Macron sich Anfang November in einem offenen Brief an die Redaktion der Financial Times wandte, weil er sich von einem Meinungsbeitrag des englischen Blatts angegriffen fühlte. Er kämpfe nicht gegen den Islam, sondern gegen den Islamismus, stellte er klar. Weil das wahr ist, hatte dies die Financial Times bereits auch ohne Intervention des Präsidenten berichtet.
Immer wieder entsteht der Eindruck, dass Macron genau das fehlt, was er sich von den Bürgern wünscht, nämlich Vertrauen. Als würden nur strenge Gesetze und genaue Überwachung ein friedliches Zusammenleben ermöglichen. So klingt das Werben für die Werte der Republik zunehmend wie aggressive Selbstverteidigung.
Diese Rhetorik kennt Frankreich schon aus der Ära Nicolas Sarkozys. Macron war mit einem anderen Versprechen, mit einem anderen Stil angetreten. Doch in seinem Versuch, das gesamte politische Spektrum der Mitte zu bedienen, wird dieses Versprechen verwaschen. Nicht nur durch Worte, auch durch Taten und Personalentscheidungen. Die Posten des Premiers und des Innenministers werden inzwischen von Sarkozy-Vertrauten ausgefüllt. Dabei hatte sich Frankreich vor drei Jahren für Zuversicht entschieden, nicht für Hardliner.