Süddeutsche Zeitung

Frankreich:Es gärt in der Fünften Republik

Marine Le Pen hat bessere Chancen als 2017, Präsidentin zu werden. Emmanuel Macron ist zwar ein Amtsinhaber mit Erfolgen. Aber er verkörpert ein System, das viele einfach satthaben.

Kommentar von Nadia Pantel, Paris

Alarmierende Nachrichten nutzen sich ab. Vor allen Dingen, wenn sie immer gleich klingen. Achtung! Marine Le Pen könnte Frankreichs Präsidentschaftswahl gewinnen! Warum sollte diesmal stimmen, was vor fünf Jahren schon nicht eintraf? Es gibt genauso wie 2017 gute Gründe zur Annahme, dass sich auch dieses Mal ausreichend Wähler beim ersten Wahlgang an diesem Sonntag und schließlich bei der Stichwahl in zwei Wochen gegen eine Präsidentschaft Le Pens entscheiden werden. Sie hat sich in den Augen der Franzosen zwar normalisiert, doch nach wie vor steht sie für eine ausländerfeindliche, anti-europäische, nationalistische und autoritäre Politik. Und das steht im Widerspruch zu den Werten der Republik.

Gleichzeitig ist es höchste Zeit, dass man sich auch in Deutschland darüber klar wird, dass die Chancen eines Le-Pen-Sieges dieses Mal deutlich höher sind als 2017. Die viel zitierte deutsch-französische Freundschaft ist nicht nur eine Floskel - sie wurde vom französischen Amtsinhaber Emmanuel Macron aktiv gefördert und gepflegt. Le Pen verspricht, die Beziehungen zu Berlin stark zu reduzieren. Ihr erklärtes Feindbild ist die EU. Für Deutschland hätte ein Sieg Le Pens deutlich direktere und drastischere Konsequenzen als der Wahlsieg Donald Trumps in den USA 2016.

Wer wohl steht in dem Land so klar für die Verachtung der Armen?

Was also hat sich in Frankreich verändert, dass ihre Chancen gestiegen sind? Und warum wird dies in Deutschland so wenig wahrgenommen? Beide Fragen hängen zusammen. Le Pen würde nicht gewinnen, weil die Mehrheit der Franzosen von ihrem Programm überzeugt wäre. Sie hat eine Chance, weil Frankreichs politisches System zunehmend morsch und marode ist. Nicht weil Macron alles falsch gemacht hätte. Auch wenn die Opposition in Paris etwas anderes erzählt: Macron ist weit davon entfernt, ein gescheiterter Präsident zu sein. Die Arbeitslosenzahlen sind zurückgegangen, die Wirtschaft hat sich von Pandemie und Lockdown durch massive staatliche Hilfe vergleichsweise gut erholt. Für einen amtierenden Präsidenten hat Macron solide bis sehr gute Zustimmungswerte. Frankreich geht es also nicht schlechter als 2017, und von außen betrachtet müsste man daher nicht damit rechnen, dass eine radikale Schwarzseherin wie Le Pen dieses Mal mehr Erfolg haben könnte als vor fünf Jahren. Zumal sie durch ihre ideologische Nähe zu Wladimir Putin und durch ihr Nein zu Sanktionen gegen Russland aus außenpolitischer Perspektive gefährlich und fehlgeleitet wirkt. Auch Frankreich erlebt eine Welle der Solidarität mit der Ukraine.

Doch unter der stabilen Oberfläche gären Unruhe und Unzufriedenheit. Es gibt in Frankreich Regionen und Städte, in denen Armut und Perspektivlosigkeit herrschen, in denen die Menschen sich vom Staat vergessen fühlen. Dort haben sich die Menschen von Wahl zu Wahl immer weiter von der Idee entfernt, dass Politiker etwas ändern können. Wenn sie wählen, dann wählen sie Marine Le Pen, weil diese immerhin weniger arrogant wirkt als die gewohnten, glatten Hauptstadtpolitiker. Und wenige Leute stehen in Frankreich so klar für die Verachtung der Armen wie der Überflieger Macron.

Le Pen profitiert zudem davon, dass Frankreichs Linke sich in ihrer Zersplitterung nur auf eines einigen kann: Macron als Feindbild. Der Linksradikale und in Umfragen gut platzierte Jean-Luc Mélenchon bedient seit Jahren das Narrativ, dass Le Pen und Macron gleich schlimm für das Land seien. Die Zahl der Linken, die bereit wären, Macron ihre Stimme zu geben, um Le Pen zu verhindern, ist deutlich geschrumpft.

Zudem hat der offen rassistische rechtsextreme Präsidentschaftskandidat Éric Zemmour dafür gesorgt, dass Le Pen im Vergleich zu ihm gemäßigt wirkt. Er hat sie sozusagen in die Mitte gerückt - unter massiver Mithilfe französischer Medien, die Marine Le Pen zunehmend entpolitisieren, indem sie die Frau beim Katzen streicheln, Rosé trinken und Witze reißen zeigen.

Le Pen spielt damit, dass sie eine Frau ist

Und schließlich hat Macron selbst einen ordentlichen Beitrag zur Verwahrlosung des politischen Raums geleistet. Er hat sich in seiner Amtszeit kaum für demokratische Prozesse interessiert. Er hat auf die Spitze getrieben, was er eigentlich reformieren wollte: Zentralisierung und Personalisierung der Politik. Stattdessen lautet sein Motto: Da wo ich bin, ist die Mitte. Es braucht zur Konsens- und Lösungsfindung also keine öffentliche Debatte, sondern nur noch die Entscheidung des Präsidenten. Zu dieser Weltsicht passt auch sein Wahlkampf, der abgehoben, selbstgerecht und verkopft wirkt.

Fügt man dem Ganzen noch die Selbstdemontage der ehemaligen Volksparteien hinzu, kommt man dort heraus, wo Frankreich heute steht. Wer mit Macron unzufrieden ist, hat nur noch die Alternative, links- oder rechtsextreme Kandidaten zu wählen. Konservative und Sozialdemokraten spielen in dieser Wahl keine Rolle mehr. Le Pen hat zudem verstanden, dass die Franzosen, in ihrem stetig und bedrohlich wachsenden Misstrauen gegenüber den politischen Institutionen, nur noch von einer Sache zuverlässig zu begeistern sind: dem Neuigkeitswert. Viel stärker als 2017 spielt sie daher die Tatsache aus, dass sie eine Frau ist und somit allein dadurch "eine Veränderung im Élysée verkörpern würde", wie sie in ihrer letzten Wahlkampfrede sagte. Wie einfach könnte Macron dieses Argument entkräften, wenn er nicht zweimal treu ergebene Hinterbänkler zu seinen Premierministern gemacht hätte. Sondern wenigstens einmal eine Frau.

So wirkt Frankreich wie eine tickende Zeitbombe, die von einem Präsidenten zum nächsten weitergeworfen wird. Immer in der Hoffnung, dass das Ganze erst beim Nächsten in die Luft fliegt, nicht bei einem selber. Ob 2022 das Jahr des großen Knalls ist, wird sich am 24. April, in der Stichwahl, zeigen.

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