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Frankreich:Lasst de Gaulles Erbe fahren

Das Land hat seinem früheren Präsidenten viel zu verdanken, unter anderem auch dies: Das System ist ineffizient, weil das Verständnis von Staat und Bürger überkommen ist. Es wäre an der Zeit für ein demokratisches Update.

Von Leo Klimm

Man darf es Staatsversagen nennen. In der Corona-Krise hat Frankreichs Führung auch in der zweiten Welle nichts im Griff. Zuletzt zählt das Land täglich etwa 60 000 Ansteckungen, seit Beginn der Pandemie sind es 1,6 Millionen. Europa-Rekord.

Unter den vielen Formen der Überforderung, die im Umgang mit dem Virus zu beobachten sind, sticht das französische Beispiel hervor. Nirgendwo ist die Diskrepanz zwischen dem Anspruch der Eliten auf exzellente Regierungsführung und der Wirklichkeit des Krisenmanagements so groß. Das Virus stellt schonungslos infrage, wie in Frankreich Entscheidungen für das Gemeinwesen gesteuert und umgesetzt werden. Und das in einem Land, in dem der Staat Kern nationaler Identität ist.

Das System steht in napoleonischer Tradition

Der Fehler liegt im System, dem Erbe von Charles de Gaulle. Dessen später Nachfolger Emmanuel Macron wird jetzt, zum 50. Todestag des Begründers der Fünften Republik, den Geist de Gaulles um Beistand beschwören. Dabei ist de Gaulle nicht Teil der Krisenlösung, er ist Teil des Problems. Die politisch-administrative Struktur, in die der General die französische Demokratie in napoleonischer Tradition 1958 gepresst hat, entspricht weder den Herausforderungen durch das Virus noch der Komplexität einer modernen Gesellschaft. Die Corona-Lehre lautet: Beerdigt de Gaulle.

Lang ist die Serie aus Irrtümern und bürokratischen Erschwernissen in Frankreichs Kampf gegen die Pandemie. Anfangs bestritt die Regierung den Nutzen von Schutzmasken, und die Gesundheitsbehörden erkannten nicht, wie wichtig eine Teststrategie ist. Inzwischen wird massiv getestet, aber die Auswertung kann Wochen dauern. Der Mangel an Intensivbetten verursacht weiter viele Tote. Von 12 000 Betten, die vor der zweiten Welle versprochen wurden, fehlen 4000. Dabei gibt Frankreich, gemessen an der Wirtschaftsleistung, ebenso viel für Gesundheit aus wie Deutschland; nur erhält es für dieses Geld weniger Schutz.

Das Land leidet unter einem Eliten-Inzest

Die Verwaltung besticht nicht durch Effizienz. Dafür besitzt sie im Präsidialsystem eine dominante Stellung. De Gaulle gründete nach dem Krieg die zu Recht viel kritisierte Elitehochschule ENA, die neben dem heutigen Staatschef und dem Premierminister auch die wichtigen Entscheider im Hintergrund stellt. Sie mögen alle kluge Köpfe sein - ihr Eliten-Inzest bringt dennoch oft kompliziert-kafkaeske Entscheidungen hervor, im schlimmsten Fall schlechte Krisenpolitik. Macron wollte die ENA abschaffen. Aber Frankreichs mächtigste Lobby widersteht.

Das System ist ineffizient, weil sein Verständnis von Staat und Bürger überkommen ist: Die Spitze hat immer recht, selbst wenn sie irrt. Deshalb verbessert sich dieses System kaum, es lernt nicht. Oder nur sehr langsam, zu langsam für ein schnelles Virus. Zu dessen Bekämpfung greift Macron in de Gaulle'scher Manier auf Notstandsgesetze zurück und unterwirft sein Corona-Kabinett dem Verteidigungsgeheimnis. Transparenz und Demokratie gelten als lästige Hindernisse. Nur: So schafft man keine Akzeptanz für den Corona-Kampf, der noch lange dauern wird.

De Gaulle war ein großer Staatsmann. Ein Kriegsheld und später ein Präsident, der seinem Land Gehör verschaffte. Auch die Deutschen haben ihm viel zu verdanken: die Aussöhnung mit Frankreich.

Doch heute verhindert sein Verfassungserbe gutes Regieren. Frankreich muss sich von ihm lösen. Es braucht ein demokratisches Update. Einen Staat, der modern ist - auch und vor allem an der Spitze.

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