Migration:Heuchler

Über Polen rümpft die EU die Nase wegen der Zustände an der Grenze zu Belarus. Und was ist mit den Toten im Ärmelkanal?

Von Josef Kelnberger

Die Polen gelten aus westeuropäischer Sicht als Schmuddelkinder der EU. Tatsächlich gibt es in vielen Fragen gute Gründe, die polnische Regierung zu kritisieren - heuchlerisch ist es jedoch, Haltungsnoten zu vergeben für die Art, wie sie die vom Autokraten Lukaschenko an die Grenze gelotsten Migranten abwehrt. Unmenschlich diese Methoden, unmenschlich die Mauer, die nun gebaut werden soll? Europa sollte sich eingestehen: Wir sind alle Polen.

Am Mittwoch sind 27 Frauen, Männer, Kinder im Ärmelkanal ertrunken. Solche waghalsigen Überfahrten im Schlauchboot treten in der Regel Menschen an, denen die EU keine Aufnahme gewährt und die in Großbritannien ihre letzte Hoffnung sehen - jeden anderen Weg dorthin versperrt ihnen ein Zaun vor dem Tunnel in Calais, gebaut von Frankreich und Großbritannien. Das Schicksal der 27 gehört wie das Sterben im Mittelmeer oder auf der Kanarenroute zum Alltag einer europäischen Asylpolitik, die gemeinsam hohe Werte formuliert, aber in der nationalen Praxis auf Abschottung setzt.

Die Ampel-Koalition hat nun in deutschen Asylfragen mehr Menschlichkeit angekündigt. Ihre lobenswerten Reformen werden jedoch zum Problem, wenn deshalb noch mehr Menschen Richtung Europa aufbrechen, vor verschlossenen Grenzen stehen und sich deshalb Schleusern anvertrauen. Das Mindeste, was die EU tun muss, ist, zu einer gemeinsamen Sprache und zu gemeinsamen Verfahren in der Migrationspolitik zu finden. Die deutsche Regierung sollte neue Gespräche darüber eröffnen. Es erscheint aussichtslos, aber es ist jede Mühe wert.

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