Umwelt:Wellen aus Gift

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Der tote Fluss: Ein verwester Fisch am Ufer der Oder. (Foto: Patrick Pleul/dpa)

Noch ist unklar, was genau die Ökokatastrophe in der Oder verursacht hat. Sicher ist nur eines: Die Widerstandskräfte der Natur gegen Beschädigungen durch den Menschen sind endlich - und der Kipp-Punkt ist schneller erreicht, als viele wahrhaben wollen.

Kommentar von Tina Baier

Was auch immer sich letztlich als genaue Ursache für das entsetzliche Fischsterben in der Oder erweisen wird - eines ist jetzt schon klar: Der Mensch ist schuld. Er hat dem Fluss zu viel zugemutet, sodass dieser schließlich zusammengebrochen ist.

An der Oder ist wohl das eingetreten, was in wissenschaftlichen Studien als Worst-Case-Szenario bezeichnet wird: der schlimmste aller denkbaren Fälle. Das geschieht, wenn viele schädliche Einflüsse zusammentreffen. Und natürlich hoffen immer alle, dass das im echten Leben nie vorkommen wird und sich die Natur doch immer irgendwie retten kann. Wie falsch und fahrlässig dieses Prinzip Hoffnung ist, zeigen die tonnenweise mit dem Bauch nach oben treibenden, zerfledderten Oder-Fische.

Die schlechte Nachricht ist: Ähnliches kann auch in größerem Maßstab passieren, sei es beim Klimawandel oder beim Artensterben. Gerade erst haben britische Forscher gefordert, den schlimmsten anzunehmenden Fall ernster zu nehmen. "Blind für Worst-Case-Szenarien zu sein, ist bestenfalls naives Risikomanagement und schlimmstenfalls tödlich dumm", schreiben sie in ihrer Veröffentlichung. Wie wahr.

Wenn ein Ökosystem stirbt

Es stimmt schon: Die Natur hält erstaunlich viele Zumutungen aus. Sie hat Sicherheitssysteme eingebaut, damit das Leben auch unter widrigen Umständen weitergeht. Würden zum Beispiel die Honigbienen aussterben - was schrecklich wäre -, gäbe es noch viele andere weniger prominente Bestäuber, die deren Job übernehmen könnten.

Das Fischsterben an der Oder zeigt aber überdeutlich, dass die Natur nicht unendlich belastbar ist. Was passiert, wenn der Kipppunkt erreicht ist, an dem ein Ökosystem stirbt, ist dort live zu besichtigen. Die Fische, die tot in der Oder treiben, sind die sichtbarsten, aber mit Sicherheit nicht die einzigen Lebewesen, die in dem Fluss zugrunde gegangen sind. Muscheln, Krebse Insektenlarven und viele andere Tiere sind bestimmt genauso betroffen. Die Frage ist eher, ob es überhaupt noch tierisches Leben in dem riesigen vergifteten Flussabschnitt gibt.

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Diese Umweltkatastrophe sollte ein Anlass sein, grundsätzlich über den fahrlässigen Umgang mit beinahe allen Flüssen nachzudenken. Denn wenn sich nichts ändert, kann sich das, was in der Oder passiert ist, jederzeit anderswo wiederholen.

Ein Sommer, heiß und trocken

Dabei kommt vieles zusammen. In fast alle großen Flüsse werden Abwässer eingeleitet, die zwar in der Regel schon gereinigt sind, die aber trotzdem noch viel mehr Schad- und Nährstoffe enthalten als das natürliche Flusswasser. Fische und andere Tiere sind also permanent einem Cocktail giftiger Substanzen ausgesetzt, der sie schwächt. Die Nährstoffe begünstigen zudem das Wachstum von Algen, darunter giftigen Arten wie der mutmaßlich am Fischsterben in der Oder beteiligten Goldalge.

Hinzu kommt das Niedrigwasser. Damit hat in diesem heißen und trockenen Sommer nicht nur die Oder zu kämpfen, sondern auch der Rhein, die Elbe, die Weser und viele andere Flüsse. Der Wassermangel, der letztlich auch eine Folge des Klimawandels und damit ebenfalls vom Menschen verursacht ist, verschärft das Abwasserproblem: Je weniger Wasser im Fluss fließt, umso konzentrierter sind die Schadstoffe und umso schädlicher ihre Auswirkungen auf die Fische das übrige Ökosystem - und für den Menschen: Denn manche Gifte reichern sich in den Speisefischen an.

Die richtige und vernünftige Reaktion wäre jetzt, kurzfristig Belastungen zu reduzieren und langfristig das Abwasser besser zu reinigen. Noch besser wäre es, die darin enthaltenen Nährstoffe für die Düngung von Feldern zu nutzen, sie also in einem Kreislauf dahin zurückzubringen, wo der Großteil herkommt: aus der Landwirtschaft. Außerdem sollten die Flüsse, wo auch immer möglich, renaturiert werden, um sie widerstandsfähiger gegen den Klimawandel zu machen.

Wie ein Sprint mit 40 Grad Fieber in praller Sonne

Es ist traurig, dass an der Oder gerade genau das Gegenteil passiert. Während in einem Abschnitt tonnenweise verendete Fische herausgebaggert werden, gehen an anderen Stellen auf polnischer Seite munter Bauarbeiten weiter, die den Fluss unter anderem tiefer und damit besser befahrbar für Schiffe machen sollen. Dabei werden giftige Schwermetalle aus den Sedimenten aufgewirbelt, die die Oder weiter belasten. Es ist, als würde man einem Menschen, der mit 40 Grad Fieber und nach Luft ringend gegen das Coronavirus kämpft, einen Sprint in praller Sonne zumuten - und sich dann wundern, dass er kollabiert.

Vielleicht aber schafft es die Natur noch einmal, das, was der Mensch angerichtet hat, zumindest halbwegs wieder in Ordnung zu bringen. Nachdem die Giftwelle durchgerollt ist, könnten Fische und andere Lebewesen aus nicht betroffenen Seitenarmen den toten Oderabschnitt neu besiedeln. Das wäre unverschämtes Glück. Einfach weitergehen wie bisher darf es dann trotzdem nicht.

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