Europäische Union:Geld gegen Rechtsstaat

Die EU-Kommission erhält als "Hüterin der Verträge" ein Instrument, dass sie mutig und zügig nutzen sollte.

Von Matthias Kolb

Die Summen klingen enorm. 1824 Milliarden Euro umfasst der Haushaltskompromiss, den das Europaparlament und die deutsche Ratspräsidentschaft geschlossen haben. Davon sind 1074 Milliarden Euro vorgesehen für das Sieben-Jahre-Budget der EU. Rechnet man dies um auf kürzere Zeiträume und 447 Millionen Menschen, verschieben sich die Dimensionen: Für den Betrag, den jede EU-Bürgerin und jeder EU-Bürger pro Tag in den Haushalt einzahlt, kann man nicht mal einen Kaffee kaufen.

750 Milliarden Euro stecken im Hilfstopf zur Bewältigung der Corona-Pandemie. Mit diesem hatten die Staats- und Regierungschefs im Juli Geschichte geschrieben: Erstmals darf die EU-Kommission in großem Stil Schulden aufnehmen. Die nötige Solidarität haben die EU-Staaten bewiesen. Wovon es mehr braucht, ist Vertrauen. Es geht um den Respekt untereinander und das Vertrauen, dass die Mitglieder EU-Recht umsetzen und europäische Werte einhalten.

Genau dafür hat das Europaparlament einen wichtigen Beitrag geleistet, indem es sein Mitspracherecht einsetzte, um eine starke "Rechtsstaats-Konditionalität" zu erkämpfen. Hinter dem sperrigen Begriff steckt eine Revolution: Wenn ein Mitgliedsland Prinzipien wie die Unabhängigkeit der Justiz, Minderheitenschutz oder Medienvielfalt verletzt, können künftig EU-Gelder gestrichen oder eingefroren werden.

Dass Polen wütend protestiert und Ungarn mit einem Veto droht, wundert nicht. Beide höhlen seit Jahren den Rechtsstaat aus, was vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) bestätigt wurde. Dort weiß man, dass der Mechanismus - anders als bisherige Verfahren - wirken kann. Nun wird es Folgen haben, wenn Subventionen veruntreut werden oder sich nationale Behörden weigern, dem Verdacht von Korruption nachzugehen.

Die oft gescholtenen Abgeordneten nutzten eine Chance, die sich nicht oft bietet

Wofür das Parlament und Länder wie Deutschland, Finnland, Belgien oder Schweden kämpfen, ist kein Luxusgut. Der Binnenmarkt, zentral für den Wohlstand in der EU, funktioniert nur, wenn Gerichte niemanden begünstigen. Firmen und Personen müssen sich darauf verlassen können, dass die Urteile des EuGH umgesetzt werden - und nicht ignoriert, wie gerade in Polen. Das Vertrauen der Gesellschaft in die EU wird erodieren, wenn Mitglieder weiter europäische Werte mit Füßen treten und Gesetze offen ignorieren, ohne dass das Konsequenzen hat.

Auch international verliert Europa an Glaubwürdigkeit: Wie soll die EU für eine "regelbasierte Ordnung" werben, wenn Staaten aus den eigenen Reihen autokratischer werden? Angela Merkel und die anderen Staats- und Regierungschefs haben es bisher nicht geschafft, Viktor Orbán zum Einlenken zu bewegen. Nun erhält die EU-Kommission als "Hüterin der Verträge" ein Instrument, das sie mutig und zügig nutzen sollte. Die oft gescholtenen Abgeordneten nutzten eine Chance, die sich nicht oft bietet. Wäre der neue Mechanismus schwammig geblieben, hätte erst 2027 nachgeschärft werden können.

Für die nächsten Jahre konnten die Abgeordneten allerdings nur einige Extra-Milliarden für Forschung, Gesundheit und das Austauschprogramm Erasmus rausholen. Dass echte Reformen ausblieben und weiter viel Geld in die Landwirtschaft fließt, hatten die Regierungschefs bereits festgelegt. Aber auch, wenn nicht alle Projekte, die die EU fördert, so modern sein werden wie eigentlich nötig: Künftig kann besser nachvollzogen werden, dass das Geld aus Brüssel korrekt eingesetzt wird.

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