Europa:Schöne Worte reichen nicht

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Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission und Mitglied der Fraktion EVP, spricht vor dem Europäischen Parlament zur Lage der Union. (Foto: Philipp von Ditfurth/dpa)

Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, spricht zur Lage der Union. Die Entscheidungen aber fallen immer noch woanders.

Kommentar von Josef Kelnberger

Eigentlich müsste die Welt den Atem anhalten, wenn Ursula von der Leyen zur Lage der Union redet. Sie spricht für 450 Millionen Menschen, die drittgrößte Wirtschaftsmacht nach den USA und China. Mit dem ihr eigenen Pathos hat sie am Mittwoch dargelegt, wie die EU den epochalen Weg in eine klimafreundliche Zukunft angeht, wie der Kontinent Verantwortung für die Menschen in Afghanistan zu übernehmen gedenkt, die digitale Zukunft gestalten, armen Ländern mit Impfstoffen helfen will. Sie musste auch rechtfertigen, wie sie Freiheit, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit im eigenen Haus Europa gegen Populisten aus Ungarn oder Polen verteidigt. Ursula von der Leyen ist Stimme europäischer Macht und Werte, und reden kann sie, mühelos wechselnd zwischen Deutsch, Französisch, Englisch, Italienisch.

Grund genug also, den Atem anzuhalten, eigentlich. Aber es gibt gute Gründe dafür, warum viele Menschen, wenn es um die tatsächliche Zukunft Europas geht, eher darauf warten, wer im September in Deutschland die Bundestagswahl gewinnt - und wer im April 2022 die französische Präsidentschaftswahl.

"State of the Union" nennt sich diese Rede, das ist eine Anmaßung

Die Institution der "State of the Union" wurde verankert im Rahmen des Lissabon-Vertrags, sie sollte die Demokratisierung der EU vorantreiben. Mehr als zehn Jahre später ist diese Rede immer noch eine Anmaßung, misst man sie an ihrem Vorbild, der "State of the Union address" des US-Präsidenten. Da spricht keine europäische Regierungschefin, die ihrem Parlament und ihren Wählerinnen und Wählern ihr Programm vorlegt. Keine Bürgerin, kein Bürger hatte bei der vergangenen Europawahl den Namen von der Leyen im Sinn. Die Idee des "Spitzenkandidaten", der vom Wahlvolk legitimiert die Kommission anführt, erlitt Schiffbruch. Es waren die Staats- und Regierungschefs, die die neue Präsidentin erfanden.

Man mag dies angesichts der Konstruktion der EU für legitim halten. Ein europäisches Demokratiedefizit entsteht aber, wenn auch in den nationalen Wahlkämpfen die EU keine Rolle spielt. Fast hat es den Anschein, mancher deutsche Wahlkämpfer verstecke die europäische Dimension deutscher Politik, weil "Brüssel" - als Synonym für angeblich demokratiefeindliche, weltfremde Bürokratie - die Deutschen ja nur Geld und Autonomie koste.

Ihre Anhänger sehen in Ursula von der Leyen die neue starke Frau des Kontinents

Ursula von der Leyen hat am Mittwoch vor dem Parlament in Straßburg die europäische Idee beschworen, den europäischen Stolz, den "European Way". Kritiker werfen ihr vor, sie produziere mehr Schlagzeilen als Politik. Tatsächlich hat sie zu Beginn der Pandemie die Schwierigkeiten unterschätzt, schnell Impfstoff zu beschaffen. Der Imageschaden für die EU war enorm. Mittlerweile zeigt sich am Beispiel der Pandemiebekämpfung, auch ihrer wirtschaftlichen Folgen, welch konkreten Nutzen es den Bürgerinnen und Bürgern bringt, wenn die EU zusammenarbeitet.

Ursula von der Leyens Bewunderer hoffen, sie könne nach dem Abschied von Angela Merkel zur mächtigsten Frau in Europa werden, wenn sie die vielen großen Gesetzesprojekte, vor allem das Klimapaket, durch die Institutionen lotst. Aber auch dabei wird sie auf die Hilfe der deutsch-französischen Achse angewiesen sein, die möglicherweise bald aus Olaf Scholz und Emmanuel Macron besteht und ganz eigene Ideen verfolgt, wenn es um gemeinsame europäische Politik geht.

Es ist mühevoll. Aber es geht nicht anders in diesem komplizierten Konstrukt namens EU.

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