Europäische Union:Brüssel, der geliebte Feind

Europäische Kommission in Brüssel

Der Sitz der Europäischen Kommission in Brüssel.

(Foto: Matthias Balk/dpa)

Auf die EU schimpfen, sie diffamieren - das gehört zum Rüstzeug jedes Populisten. Das Problem ist nur, die Gemeinschaft nimmt dadurch Schaden. Was dagegen hilft? Leidenschaftlich darüber zu streiten, was Europa für die Menschen sein soll.

Kommentar von Josef Kelnberger, Brüssel

Europa führt einen Krieg gegen sich selbst, zumindest einen Krieg der Worte, und das ist schlimm genug. Der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki spricht davon, sein Land werde sich wehren, sollte die EU einen "dritten Weltkrieg" gegen die Polen entfachen im Streit um die Unabhängigkeit der Justiz. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán warnt seine Landsleute, die Brüsseler EU-Eliten wollten sie durch Prügel umerziehen zu Menschen mit westeuropäischen Wertvorstellungen und fordert sie auf: "Wenn die Zeit kommt, stellt euch vor eure Häuser und verteidigt sie." Bevor man sich nun erregt über die Nationalisten und Populisten in Osteuropa, sollte man sich über jemand anderen Gedanken machen, über Michel Barnier.

Der Franzose, man erinnert sich, hat als Brexit-Chefverhandler die Werte und Interessen der Union beinhart verteidigt. Im französischen Präsidentenwahlkampf punktet er nun mit der Idee, in Fragen der Immigration europäisches Recht außer Kraft zu setzen, um die nationale Identität zu verteidigen.

Damit ist der konservative Politiker nicht weit entfernt von den Brexit-Populisten, von Orbán oder Morawiecki. Die "Brüsseler Blase", sagt Barnier, werde durch ihre Unbelehrbarkeit noch viele weitere EU-Austritte provozieren. In dieser Blase hat Barnier einst gern Karriere gemacht. Mit seiner Heuchelei fügt er der EU schweren Schaden zu.

Ein wehrloser Gigant

Das Feindbild Brüssel ist bei Populisten jeglicher Herkunft beliebt. Mit "Brüssel" gemeint sind die Institutionen, die es braucht, um einen Verbund von 27 Staaten zu organisieren. Parlament, Kommission, Rat der Mitgliedsländer, Europäischer Gerichtshof in Luxemburg: Sie sind gemeinsame Geschöpfe der Mitgliedstaaten, doch wenn sie ihre Arbeit verrichten, werden sie oft diskreditiert als weltfremde Eliten, die nur darauf bedacht sind, ihre Macht auszuweiten, indem sie ganz Europa normieren und vereinheitlichen.

"Brüssel" ist ein ein wehrloser Gigant, wenn ihn die Mitgliedstaaten nicht verteidigen. Auch Angela Merkel schwächte die Institutionen, indem sie viel zu lange um Nachsicht für Polen und Ungarn warb, während dort der Rechtsstaat abgebaut wurde und die Korruption um sich griff. Nun droht der EU umso mehr die Gefahr der Handlungsunfähigkeit.

Eine Million Euro täglich soll Polen nun zahlen, weil die Regierung die Gewaltenteilung im Land aushebelt. Es wird nicht die letzte Strafe sein, nicht nur für Polen, sondern auch für Ungarn. Es bleibt der Kommission nichts anderes mehr übrig, als Härte zu zeigen, um gemeinsame Normen und Werte zu verteidigen.

In den Verträgen ist die Rede von einer immer weiteren Integration Europas

Die Kriegsrhetorik von Morawiecki und Orbán lässt jedoch vermuten: Sie werden nicht zahlen. Sie wollen die EU vermutlich auch nicht verlassen, dafür profitieren sie viel zu sehr von ihr. Sie glauben, am Ende doch wieder mit einem Deal davonzukommen. Zur Rechtfertigung beharren sie darauf, die EU auf ihren Kern zurückzuführen, auf ein "Europa der Vaterländer", ohne Brüssel.

In den Europäischen Verträgen steht nach wie vor das Ziel einer "ever closer union", einer immer weiteren Integration Europas. Was genau das für das Europa der 27 bedeutet, darum ist es still geworden. Gemeinsame Schulden? Gemeinsame Grenzmauern? Gemeinsame Waffen? Mehr Rechte für die gemeinsamen Institutionen? Wer den Populisten Paroli bieten will, muss diese Debatte mit Leben füllen.

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