Süddeutsche Zeitung

Europäische Union:Vor dem Polexit

Das polnische Verfassungsgericht setzt sich über die Regeln der EU hinweg - und diese darf die Tabubrüche aus Warschau nicht länger hinnehmen.

Kommentar von Florian Hassel

Verfassungsgerichte sind dafür da, die Politik zu kontrollieren. In Polen ist das derzeit umgekehrt: Die Politik kontrolliert das Verfassungsgericht. Wenig erstaunlich also, dass dieses nun entschieden hat, die eigene Verfassung habe Vorrang vor den EU-Verträgen und vor Entscheidungen des Gerichtshofes der EU. Damit hat Polen nicht nur nach Ansicht seines scheidenden Bürgerrechtskommissars Adam Bodnar den Anfang vom "Polexit" eingeleitet - den Austritt des Landes aus der Europäischen Union. Eine Frage ist, ob Warschau diesen Weg in den nächsten Monaten und Jahren zu Ende gehen will - eine andere, wie die EU auf diesen beispiellosen Tabubruch reagiert, der an ihren Grundlagen rüttelt.

Gewiss, auch das Bundesverfassungsgericht hat kürzlich gegen ein EuGH-Urteil geurteilt - und Deutschland sich damit zu Recht ein Vertragsverletzungsverfahren durch die EU-Kommission eingehandelt. Freilich haben die Karlsruher Richter nicht das Funktionieren der EU und die EU-Verträge an sich infrage gestellt, so wie es jetzt Polen tut. Würde die EU jetzt gegenüber Warschau handeln wie geboten, wäre es nur ein erster Schritt, den polnischen Antrag auf die Unterstützung aus ihrem 750 Milliarden Euro umfassenden Wiederaufbaufonds auf Eis zu legen.

Schließlich ist in Polen nach dem Urteil der Warschauer Verfassungsrichter und den ihnen folgenden unerhörten Aussagen von Ministerpräsident und Justizminister nicht zu erwarten, dass die Verwendung dieses Geldes noch von einer unabhängigen Justiz kontrolliert wird. Dabei würde der polnische Anteil letztlich von europäischen Steuerzahlern aufgebracht. Der zweite Schritt wären hohe tägliche Strafgelder, die die EU-Kommission beim Europäischen Gerichtshof beantragen kann.

Abenteuerliche Manipulationen

Der Grund für das Zögern liegt natürlich auch in Paris - und mehr noch in Berlin. Die deutsche Politik verharrt seit Jahren in Untätigkeit gegenüber dem Abbau des Rechtsstaates in Polen und dem autoritären Abgleiten des Landes. Die Hoffnung war immer, daraus machen hochgestellte Berliner Politiker keinen Hehl, dass die nationalistische Regierungspartei PiS - wie schon einmal 2007 - bald abgewählt würde, der Spuk dann vorbei sei und der eingerissene Rechtsstaat ebenso wiederaufgebaut werde wie Warschaus Verhältnis zur EU.

Bisher hat diese Hoffnung getrogen. Schon jetzt aber sind die Kosten der Untätigkeit enorm: Es ist gut möglich, dass es nie zu dem fatalen Urteil der parteinahen Verfassungsrichter vom Mittwoch gekommen wäre, hätten die EU und Berlin viel früher reagiert und die Regierung in Warschau gleich zu Beginn von deren antidemokratischem Feldzug etwa mit hohen Strafgeldern überzogen. Der rechtswidrige Umbau des Justizsystems zur Parteijustiz, besetzt mit Hunderten PiS-Parteigängern und Karrieristen, ist so weit vorangeschritten, dass es Jahrzehnte dauern könnte, ihn wieder zurückzudrehen.

Und eines ist sicher: Die missachteten Urteile noch aufrecht stehender polnischer Richter wie auch der höchsten europäischen Gerichte haben in Polen zu großer juristischer Unsicherheit geführt. Schon jetzt wurden Gesetze und Urteile willfähriger Gerichte sowohl in Polen als auch vom EuGH wie vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte für rechtswidrig erklärt. Auch Urteile des juristisch fragwürdigen Verfassungsgerichts Polens dürften vor Europas Gerichten angefochten und als ungültig beurteilt werden, so wie es kürzlich bereits der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte tat.

Turnusgemäß wird in Polen im Herbst 2023 gewählt. Verlassen sollte man sich darauf jedoch nicht, erinnert man sich an die abenteuerlichen Manipulationen, die Warschau im vergangenen Jahr bei der Terminierung der nicht vollständig freien und erst recht nicht fairen Präsidentschaftswahl anstellte. Die Popularität der PiS sinkt derzeit; doch niemand weiß, ob es dabei bleibt - und welche Manöver zum Machterhalt PiS-Chef Jarosław Kaczyński noch bereithält.

Gegen die demokratische Identität

Aber die Europäische Union darf auch nicht einfach abwarten. Lässt sie aus Sorge um die Einheit Europas die Warschauer Manöver und die nun mit Sicherheit folgenden weiteren Rechtsbrüche, die auch andere Populisten und Möchtegern-Autokraten in der EU ermutigen, ohne wirklich greifbare Folgen geschehen, führt sie ihre demokratische Identität ad absurdum. Doch wer etwa die Rede von Ursula von der Leyen am 7. Juli gehört hat, in der es die EU-Kommissionspräsidentin schaffte, trotz ihres Themas, der Rechtsstaatlichkeit nämlich, die fortschreitende Zerstörung des Rechtsstaates in Polen fast vollständig zu übergehen, hat keinen Grund zum Optimismus. Doch auch die eine ähnliche Vogel-Strauß-Politik verfolgenden Regierungen Frankreichs und Deutschlands sollten überlegen, ob sie gegenüber dieser polnischen Regierung mit dem bisherigen Vorgehen wirklich gut beraten sind. Gedankt wurde ihnen der Langmut bislang nämlich nicht.

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