Süddeutsche Zeitung

Großbritannien:Würstchen und Wortbrecher

Im ewigen Handelsstreit mit der EU muss sich Boris Johnson entscheiden, was ihm wichtiger ist: Frieden in Nordirland oder die Illusion einer perfekt abgeschotteten Insel.

Kommentar von Stefan Kornelius

Im großen Brexit-Spiel gibt es ähnlich wie bei Monopoly einen Kartenstapel, von dem die Spieler Instruktionen entgegennehmen. Das Problem: Auf den Karten steht der immer gleiche Satz. "Gehen Sie zurück auf Los, vergessen Sie alle Abmachungen, reden Sie über die irische Grenze."

Diese ermüdende und frustrierende Wiederholung macht sich der britische Premier schon eine Weile lang zu Nutzen, weil er darin das perfekte Werkzeug für seine Politik der Destruktion gefunden hat. Provokation und Kompromissunwilligkeit sind der Antrieb für Boris Johnson, so füttert er den Nationalismus und billigen Exzeptionalismus, auf den er seine Macht gründet.

In einem 28-seitigen Dokument hat die britische Regierung nun aufgeschrieben, wie sie das sogenannte Nordirland-Protokoll interpretieren oder - denn nur darum geht es - neu schreiben will. Das Nordirland-Protokoll ist nicht irgendeine Klausel aus dem Brexit-Vertrag - es handelt sich um die zentrale Vereinbarung, ohne die der Austritt nicht möglich gewesen wäre. Die Passage versucht ein britisches Dilemma zu lösen: Wie kann man eine harte Grenze zur EU errichten und exakt diese harte Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland verhindern? Denn dies ist ja Londons ureigenes Problem: Die Regierung will sich messerscharf von der EU abgrenzen und auch keiner regulatorischen Abmachung unterwerfen. Aber gleichzeitig muss sie alle Härten einer echten Grenze in Nordirland vermeiden, weil ansonsten das fragile Gleichgewicht der irischen Identitäten aus dem Lot geraten könnte und mit neuer Gewalt zwischen Unionisten und Republikanern zu rechnen wäre.

Großbritanniens Ruf als Vertragspartner ist beschädigt

In Wahrheit geht es also nicht um Tiefkühlfleisch oder Würstchen, die gerade in nordirischen Supermarktregalen fehlen. Es geht um das Problem, dass sich Boris Johnson zwischen Frieden in Nordirland und seinem Traum von der perfekt abgeschotteten Insel und damit seinem Identitäts-Populismus entscheiden muss.

Dieses Dilemma ist seit dem ersten Tag der Brexit-Verhandlungen bekannt und wurde in jenem Moment weggebügelt, als Johnson seine Vorgängerin Theresa May mit Hilfe exakt jenes Nordirland-Themas aus dem Amt getrieben hatte. Danach versicherte Johnson, dass er die Nordirland-Klausel umsetzen könne, die - durchaus sperrig - als Zollgrenze die Irische See festlegt und Nordirland damit außerhalb der britischen Zollhoheit stellt. Nun bricht er sein Wort und einen völkerrechtlich bindenden Vertrag, was die Glaubwürdigkeit Großbritanniens als Vertragspartner weit über die Grenzen der EU hinaus beschädigt.

Wie die EU auf die Provokation reagieren sollte? Hilfreich wäre es, zunächst die Emotionen zu zügeln, was angesichts einer Serie von britischen Unterstellungen und Drohungen schwerfallen dürfte. Die sachlich beste Lösung wäre, wenn sich die Briten auf die Einhaltung von EU-Standards verpflichteten, vor allem bei den nun diskutierten Warengruppen wie frische Supermarktware und Fleischprodukte. Das wäre eine minimale Unterwerfung unter EU-Standards und ein hilfreicher erster Schritt zur Gewöhnung. Denn beim Thema Standards und gleiches Regelwerk werden in den kommenden Jahren unendlich viele Handelsprobleme zwischen der Insel und dem Festland gelöst werden müssen.

Ob das gelingt, ist allerdings zweifelhaft. Sachlichkeit ist nicht die Eigenschaft, die man mit der Regierung Johnson in Verbindung bringt.

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