Süddeutsche Zeitung

EU:Endlich wird klar geredet

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Lange haben sich die Staats- und Regierungschefs auf EU-Gipfeln davor gedrückt, Missstände in anderen Ländern offen anzusprechen. Viel zu lange. Deshalb ist es mit Viktor Orbán so weit gekommen.

Kommentar von Matthias Kolb, Brüssel

Für Viktor Orbán ist es nichts Neues, bei einem EU-Gipfel fast alle gegen sich zu haben. Mit Polens Premier blockierte Ungarns Ministerpräsident 2020 wochenlang den mehrjährigen EU-Haushalt und das Corona-Aufbaupaket. 2019 nutzte er nach der Europawahl sein Veto geschickt, um Kritiker von den Spitzenjobs fernzuhalten. Doch eine so emotionale Debatte über das Wertefundament der EU und so grundsätzliche Angriffe auf seinen autoritären Führungsstil wie am Donnerstagabend hatte Orbán noch nie erlebt.

Endlich wird Orbán offen damit konfrontiert, dass eine große Mehrheit der Staats- und Regierungschefs seine Politik als Verstoß gegen Rechtsstaatlichkeit, Medienfreiheit und Minderheitenschutz ansieht. Es ist das neue Gesetz, das die Darstellung nichtheterosexueller Sexualität in Büchern und Filmen für Jugendliche verbieten soll, das viele zu so deutlichen Worten bewegt. Am persönlichsten wurde Luxemburgs Premier Xavier Bettel: "Ich bin nicht schwul, weil ich irgendetwas im Fernsehen gesehen habe, sondern weil ich so fühle."

"Man entscheidet sich dafür, homophob zu sein"

Nicht nur Bettel wirft dem Ungarn vor, vor der Wahl 2022 Homosexualität und Pädophilie zu vermischen und eine Spaltung der Gesellschaft in Kauf zu nehmen. In der Sitzung sagte der Belgier Alexander De Croo, niemand entscheide sich dafür, homosexuell zu sein: "Aber man entscheidet sich dafür, homophob zu sein." Die Regierungschefs aus Portugal und den Niederlanden legten Orbán nahe, darüber nachzudenken, die EU zu verlassen - wer deren Werte nicht teile, könne trotzdem wirtschaftlich verbunden sein.

Für solche Aussagen gibt es nun Applaus in West- und Nordeuropa, aber zu den Emotionen gehören neben Empörung auch Frust und Schuldgefühle. Frust, weil alle Teilnehmer des EU-Gipfels wissen, dass es an Instrumenten fehlt, Orbán zur Umkehr zu bewegen. Bei einem Vertragsverletzungsverfahren, das Ursula von der Leyen mit viel Entrüstung ankündigte, dauert es Jahre, bis der Europäische Gerichtshof urteilt. Und der neue Rechtsstaatsmechanismus dürfte hier nicht greifen, da keine EU-Geld im Spiel ist.

Und die Union hielt ihre schützende Hand über Orbán und seine Fidesz

Dass die EU-Kommission dieses Werkzeug nicht anwendet, ist bezeichnend: Bisher ließ sich Orbán sein Okay abkaufen und die anderen hofften, dass es zumindest nicht schlimmer werden würde. Denn nicht nur die Kommission scheute die Konfrontation, auch die Staats- und Regierungschefs vermieden es bisher auf Gipfeln, Missstände in anderen Ländern anzusprechen. Dies nutzt neben Polen gerade Ungarn aus, um den Rechtsstaat auszuhöhlen, Orbáns Freunden und Familie Posten und Millionen zuzuschanzen sowie fast alle Medien auf Linie seiner Partei Fidesz zu bringen. Es ist traurige Realität, dass jene Ungarinnen und Ungarn, die nur Radio und Fernsehen konsumieren, die außergewöhnliche Kritik an Orbán nur durch die Brille der Regierung wahrnehmen werden.

Besonders groß sollte das schlechte Gewissen aber in Deutschland sein. Bis Februar hielten CDU und CSU ihre schützende Hand über Orbán, damit Fidesz der EVP im Europaparlament die Mehrheit sichert. So konnte angeblich Einfluss genommen worden, doch Orbán ließ sich nicht beeinflussen. Wem Ungarns Demokratie am Herzen liegt, muss weiter öffentlich Druck ausüben und Missstände anprangern. Man muss vor allem jene Unternehmen, die große Investoren in Ungarn sind, fragen, was sie zum Schutz europäischer Werte tun. Vor einer Antwort drückt sich die deutsche Autoindustrie seit Jahren.

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