Europa:Die Methode Merkel zieht nicht mehr

Europa: Auf dem Weg zu ihrem vermutlich letzten EU-Gipfel: Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Auf dem Weg zu ihrem vermutlich letzten EU-Gipfel: Bundeskanzlerin Angela Merkel.

(Foto: Olivier Hoslet/AP)

Die Zukunft der EU hängt nicht zuletzt daran, wie viel eine neue deutsche Regierung bereit ist zu investieren. Und damit ist beileibe nicht nur Geld gemeint.

Kommentar von Josef Kelnberger

Eine ernste Sorge ist immer wieder herauszuhören, wenn in Brüssel die Rede auf die neue deutsche Regierung kommt. Und diese Sorge trägt den Namen Christian Lindner. Ob der Mann wirklich Finanzminister werde, fragen viele. Der FDP-Vorsitzende gilt als Verkörperung deutscher Überheblichkeit und deutschen Geizes im Umgang mit weniger wohlhabenden Ländern in Europa.

Und dann gibt es eine große Hoffnung, wenn in Brüssel über die Ampel-Koalition gesprochen wird, auch sie trägt einen Namen: Christian Lindner. Er möge die Süd- und Osteuropäer einbremsen und sicherstellen, dass die Stabilitätskriterien nicht noch mehr aufgeweicht, dass keine weiteren gemeinsamen Schuldenprogramme aufgelegt werden auf Kosten der Sparerinnen und Sparer im Westen und Norden Europas.

Natürlich ist das zu viel der Ehre für einen Mann, der sich ohnehin seiner Bedeutung sehr bewusst ist. Aber es weiß eben noch niemand, wie der Chef der deutschen Ampelmänner und Ampelfrauen mit den unterschiedlichen Erwartungen umgehen will, die an eine deutsche Regierung gestellt werden. Was will Olaf Scholz? Er sollte sich sehr bald nach seiner Kanzlerwahl erklären, denn Europa braucht dringend Führung und Modernisierung.

Über die Diagnose sind sich alle im Klaren. Aber über die Konsequenzen?

Die 27 müssen sich vom Rockzipfel der USA lösen, müssen militärisch selbständiger werden, müssen bei der Digitalisierung vorankommen, müssen eine gemeinsame Sprache beim Thema Migration finden, müssen zum Weltmarktführer in Sachen Klimaschutz werden und den Menschen die Angst nehmen vor dem Wandel, der damit verbunden ist. Und sie müssen dabei der Welt ihre Grundwerte vorleben - Freiheit, Demokratie, Menschenrechte. Andernfalls wird die EU sehr bald aufgerieben und in ihre Einzelteile zerlegt von den Großmächten USA und China und dem Gernegroß Putin. In dieser brutalen Diagnose ist man sich überraschend einig in EU-Kreisen. Man müsste bloß noch Konsequenzen ziehen.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat mit seiner Forderung nach "strategischer Autonomie" einen Rahmen vorgegeben, ebenso EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit ihrem Grünen Deal. Nun ist es an den Deutschen, ihre Rolle zu spielen. Die Methode Merkel hat sich erschöpft. Man wird der Kanzlerin noch Denkmäler bauen dafür, wie sie in all den durchwachten Krisennächten die EU zusammengehalten hat; auch wenn sie das riesengroße Streit-Objekt Nord Stream 2 hinterlässt. Aber einen Weg in die Zukunft hat sie der EU nie gewiesen. Wie viel also ist die neue deutsche Regierung bereit in die Europäische Union zu investieren? Es geht um Geld, aber auch um noch viel mehr.

Mit Sanktionen lässt sich die EU nicht zusammenhalten

Die EU wird noch weitere Schulden machen müssen, wenn sie ihre eigenen Ziele ernst nimmt. An der Erkenntnis wird auch ein Finanzminister Lindner nicht vorbeikommen, und selbst ein Finanzminister Robert Habeck dürfte an Grenzen stoßen. Dass es sich aber lohnt, in Europa zu investieren, hat Angela Merkel bewiesen, als sie den Weg frei machte für den Corona-Wiederaufbaufonds. Die Milliarden, die nun verteilt werden, erbringen ein Vielfaches an Zinsen.

Sie stabilisieren die europäische Wirtschaft und helfen bei deren Modernisierung. Sie können Südeuropäer, die unter der deutschen Austeritätspolitik gelitten haben, mit der EU versöhnen. In den osteuropäischen Ländern führen die Milliarden den Menschen nicht nur den Nutzen gemeinsamer europäischer Politik vor Augen, sondern helfen auch, Regierungen an die Kandare zu nehmen, die sich nicht an europäische Werte halten. Die polnische Regierung wird auf ihre Tranche warten müssen, solange sie nicht aufhört, die Justiz zu unterwerfen. Geld gegen Werte, ein scharfes Schwert, das auch Viktor Orbán fürchten muss. Und doch lässt sich damit allein die EU nicht zusammenzuhalten.

Mit Recht beharrt Angela Merkel darauf, dass sich das eigentliche Problem nicht lösen lässt, indem man Polen oder Ungarn bestraft. Soll die Europäische Union weiter ihre Gründungsidee von der "ever closer union", einer immer engeren Integration in immer mehr Politikfeldern verfolgen, wofür es in Deutschland wohl die meisten Anhänger gibt? Oder sollen wieder mehr die Nationalstaaten zur Geltung kommen? Die Frage wird Europa wohl noch beschäftigen, wenn die Ampel-Koalition schon Geschichte ist. Die Briten haben ihre Entscheidung getroffen, mit bekannten Folgen, weshalb kein Land mehr damit droht, die EU zu verlassen. Aber die Skepsis gegenüber "Brüssel", dem europäischen Zentralismus, der nationale Werte zerstöre, ist nicht verschwunden. Vor allem in Osteuropa machen sich Populisten diese Skepsis zunutze. Und deshalb könnte es eine gute Idee sein, wenn der neue deutsche Kanzler nach seiner Wahl nicht gleich nach Paris aufbräche, sondern (auch wenn das jetzt wehtut) erst nach Warschau fliegt.

Ein echter Neustart in der deutschen Europapolitik wäre...

Olaf Scholz könnte signalisieren, dass er wie Merkel die deutsche Verantwortung gegenüber Osteuropa anerkennt. Er würde damit dem von den Populisten geschürten Eindruck entgegenwirken, Osteuropäer seien Europäer zweiter Klasse, und damit vielleicht auch der Opposition helfen. Das Gespräch mit den Regierenden böte die Möglichkeit zu mahnen und mit Strafen zu drohen in Fragen der Rechtsstaatlichkeit. Unbedingt müsste er darauf pochen, dass die polnische Regierung mit den Flüchtlingen an der Grenze zu Belarus anständig umgeht. Gerade bei diesem Thema könnte Scholz aber auch zeigen, dass er unangenehme Realitäten anerkennt.

Gerade haben, gemeinsam mit Polen, elf weitere europäische Staaten ein Papier verfasst mit der Forderung, die östliche Grenze der EU "physisch" zu sichern, also mit Mauern oder Zäunen. Es gibt in der EU sogar schon eine Debatte darüber, in bestimmten Fällen "Pushbacks", das Zurückdrängen von Flüchtlingen, zu legalisieren. In Deutschland glauben derweil manche immer noch, eine europäische Migrationspolitik nach grünen Maßstäben durchsetzen zu können, wenn man das nur wirklich wolle. "Illusion" ist dafür ein viel zu schwacher Ausdruck.

Deutsche Illusionen, deutsche Lebenslügen. Die große Europäerin Angela Merkel hinterlässt ihrem Nachfolger einige Erblasten. Was übrigens jene betrifft, die Nord Stream 2 heißt: Diese Pipeline zu Putin noch zu kappen, das wäre ein echter Neustart in der deutschen Europapolitik.

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