Die Staatsführer des Baltikums waren, wen wundert's ob der Geschichte ihrer Länder, schon immer die ewigen Mahner vor einem unberechenbaren Russland. Vor dem Krieg gegen die Ukraine galten sie deshalb in Brüssel, Paris und Berlin oft als große Nervensägen. Mit dem russischen Einmarsch dann kippte die Wahrnehmung, mit einem Male sah man in ihnen hellsichtige und standhafte Kenner Russlands.

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Wohl bei keiner anderen stehen seither die Journalisten so Schlange wie bei Kaja Kallas, der 45-jährigen, eloquenten Regierungschefin Estlands, die Magazine wie etwa der New Statesman zur neuen "Eisernen Lady" Europas erklärten. Kallas revanchiert sich mit klaren Botschaften, die den Fokus bei den Alliierten scharf halten sollen. "Frieden kann nicht das ultimative Ziel sein, wenn er bedeutet, dass die russische Aggression sich auszahlt", sagte sie dem New Statesman. "Gas mag teuer sein, aber die Freiheit ist unbezahlbar", schrieb sie den Deutschen ins Stammbuch.
Vielen galt sie nach einem Jahr im Amt als Fehlbesetzung
Kaja Kallas hat ein bemerkenswertes Jahr hinter sich. Sie hat sich in der Ukrainekrise neu erfunden und dabei aus einem tiefen politischen Tal herausgefunden. Nun hat sie ihrem Land auch eine neue Regierung geschenkt. Koalitionsbruch, Auseinanderfallen der Regierung, Suche nach neuen Partnern - was sich anhört wie eine handfeste Staatskrise, war in Wirklichkeit ein Schachzug der Premierministerin: Kaja Kallas hat sich und ihrer wirtschaftsliberalen Reformpartei eine neue Regierung gebastelt, hat der skandalbelasteten, zunehmend unkooperativen Zentrumspartei den Fußtritt gegeben und sich stattdessen als neue Koalitionspartner Sozialdemokraten und die konservative Vaterlandspartei (Isamaa) ins Boot geholt.
Die Juristin Kaja Kallas war von 2014 bis 2018 Europaparlamentarierin, seit Januar 2021 erst ist sie Premierministerin Estlands. Viele Beobachter waren gespannt, ob es ihr gelingen würde, aus dem Schatten des Vaters zu treten: Siim Kallas, Mitbegründer der Unabhängigkeitsbewegung Estlands, später Premierminister des Landes, dann auch noch ein Jahrzehnt lang EU-Kommissar. Und noch bis Anfang dieses Jahres schien es so zu sein, als sollten jene recht behalten, die ihr ein Scheitern vorhergesagt hatten: Die Umfragewerte ihrer Partei waren am Boden, Kaja Kallas hatte einen Ruf als schwache, unentschlossene Führerin, sie galt nach gerade mal einem Jahr im Amt selbst manchen Anhängern ihrer eigenen Partei als Fehlbesetzung.
Der Krieg kam, und sie handelte schnell und öffentlich
Dann kam der Krieg, und Kallas, die sich immer als Kämpferin für ein starkes, einiges Europa gesehen hatte, fand ihre Rolle. Sie handelte schnell und öffentlich, bis heute liefert im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung kein anderes Land der Ukraine so viel Waffen und Unterstützung wie das gerade mal 1,3 Millionen Einwohner zählende Estland. Und sie fand klare Worte. Über die Natur des russischen Regimes ebenso wie über die in ihren Augen fatale alte Nato-Strategie, die in den baltischen Ländern erste "Stolperdrähte" für den Fall eines russischen Angriffs sah. Eine Strategie, die für die Balten selbst "die komplette Auslöschung unserer Länder und Kulturen" bedeuten würde, wie Kallas kurz vor dem Nato-Gipfel in Madrid sagte. Nach dem Gipfel dann zeigte sie sich zufrieden darüber, dass die Nato sich nun endlich bereit zeige, "jeden Zentimeter des Nato-Gebiets vom ersten Augenblick an zu verteidigen".
Heute ist sie nicht nur die prominenteste Stimme der Balten, es haben sich auch ihre Zustimmungswerte zu Hause verdreifacht, und ihre Partei liegt in Umfragen bei mehr als 30 Prozent. Nicht ganz verflüchtigt hat sich der Verdacht, dass Kallas Außenpolitik besser kann als Innenpolitik. Die Inflation kletterte gerade im Juni auf fast 22 Prozent - Rekord in der Euro-Zone. Wie sehr der Glanz der neuen Rolle die alten Probleme überstrahlt, wird man im März nächsten Jahres wissen. Dann wählen die Esten wieder.