"In aller Ruhe" mit Carolin Emcke:"Nicht reformfähig" - Georg Essen über die katholische Kirche

Lesezeit: 3 Min.

Georg Essen spricht über das Wesen des Glaubens, der katholischen Kirche - und über den Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche. (Foto: M.Heyde/HU Berlin/Bearbeitung: SZ)

Was macht Glauben aus? Und warum tut sich die Kirche so schwer mit Modernisierung? Darüber spricht Theologe Georg Essen in dieser Folge von "In aller Ruhe". Hinweis: In dieser Folge werden sexualisierte Übergriffe geschildert.

Podcast von Carolin Emcke

Die katholische Kirche in Deutschland ist in der Krise: sinkende Mitgliederzahlen, der Missbrauchsskandal und gesellschaftspolitische Positionen, die nicht mehr das Lebensgefühl urbaner und junger Menschen ansprechen. Vor allem beim Umgang mit Queerness, der Rolle der Frau und dem Zölibat scheint eine Modernisierung überfällig. Aber: Warum tut sich die katholische Kirche damit so schwer? Und was bedeutet es überhaupt, in einer säkularen Welt zu glauben?

In der neuen Folge von "In aller Ruhe" spricht Carolin Emcke mit dem Theologen Georg Essen. Er ist 1961 in Kevelaer am Niederrhein geboren. Er studierte von 1981 bis 1987 in Münster und Freiburg Katholische Theologie und Geschichte. 1994 wurde er "summa cum laude" zum Dr. theol. an der Katholisch-Theologischen Fakultät Münster promoviert. Titel der Dissertation: "Historische Vernunft und Auferweckung Jesu. Theologie und Historik im Streit um den Begriff geschichtlicher Wirklichkeit". 1999 habilitierte er sich mit der Arbeit "Die Freiheit Jesu. Der neuchalkedonische Enhypostasiebegriff im Horizont neuzeitlicher Subjekt- und Personphilosophie" Seit 2021 ist er Direktor des Zentralinstituts für Katholische Theologie der Humboldt-Universität zu Berlin.

"Was hat mich in Lebenskrisen getragen?"

Was bedeutet für Georg Essen "glauben"? "Was hat mich eigentlich in Lebenskrisen wirklich getragen, wenn wirklich kein Ende in Sicht war, kein Licht am Ende des Tunnels?" Seine Erfahrung: "Ich kann es nicht gewesen sein. Ich habe mich selbst mehrfach in meinem Leben als sehr schwach und vor allen Dingen sehr angstbesetzt erfahren. " Und "dann gibt es einige Religionen, die diesen tragenden Grund "Gott" nennen."

Und einen solchen, gesellschaftlichen Trost hat er von den Kirchen in Deutschland während der Corona-Zeit vermisst: "Mir fehlte ein großes Symbol, ein großes gesellschaftlich-öffentliches Wort. Da ich schon denke: Die Kirchen hätten sprechen und Trost stiften können." Das könne auch die Rolle von Religion in einer säkularen Gesellschaft sein: "Dieser Trost, der etwas stillen soll, was wir einander nicht geben können." Auch wenn das früher mal so war, aber: "Das Christentum ist keine Leitkultur in unserer pluralen heutigen Gesellschaft." Gleichzeitig sagt Essen auch: "Es ist zwar der Kipppunkt erreicht, was die Mitglieder der beiden Großkirchen angeht. Deren Anteil liegt jetzt ungefähr bei 50 Prozent. Das ist ein rasanter Rückgang. Aber es sind ja immerhin noch 50 Prozent. Und das ist sehr viel."

"Ein jeder Mensch ist das Ebenbild Gottes"

"Der christliche Glaube hat ein wirklich erhebliches, strukturelles Problem: Das Problem ist, dass seine Wahrheit ja nicht in einem Buch, in einer Lehre seinen Niederschlag gefunden hat. Das ist sekundär. Das Primäre ist, dass die Wahrheit gebunden ist an ein geschichtliches Ereignis, nämlich an die Person des Jesus von Nazareth", sagt Georg Essen. Und daraus folge ein Dilemma: "Das große Dilemma des christlichen Glaubens ist, dass seine Wahrheit eigentlich eine Wahrheit in der Vergangenheit ist. Über 2000 Jahre zurück. " Das heißt: "Kirche ist in dem Sinne nichts anderes als die institutionalisierte Form einer Erinnerungs- und Erzähl-Gemeinschaft."

Die Kirche müsse "religionsintern eine Antwort auf die Würde der Frau und Homosexualität finden." Und: "Empirisch, würde ich tatsächlich sagen, entscheidet sich alles daran. Der Laden bricht auseinander." Für Essen gibt die Bibel darauf aber eine Antwort: "Ein jeder Mensch ist das Ebenbild Gottes. Ein jeder Mensch, ohne jede Ausnahme. Und Menschen finden sich vor in ihrer Geschlechtlichkeit, in ihrer Queerness. Und das alles zu dämonisieren oder zur Sünde zu erklären, ist ein Frevel." Allzu viel Optimismus auf eine schnelle Modernisierung mag er aber fürs Erste nicht verbreiten: "Der Laden ist nicht wirklich reformfähig und -willig."

Für die Zukunft wünscht sich Georg Essen, "dass diese Kirche meine Heimat bleibt."

Empfehlung von Georg Essen

Andrea Wulf: "Fabelhafte Rebellen - Die frühen Romantiker und die Erfindung des Ich" (Foto: C.Bertelsmann/Bearbeitung: SZ)

Georg Essen empfiehlt: "Fabelhafte Rebellen - Die frühen Romantiker und die Erfindung des Ich" von Andrea Wulf, erschienen bei C. Bertelsmann. "Das ist eine Mikro-Studie über eine bestimmte Zeit in den 90er-Jahren des 18. Jahrhunderts in Jena, in der alle Geistesgrößen wie Schiller, Fichte und von Humboldt da waren." In dieser Zeit liegen laut Essen die "Ursprünge unseres heutigen Freiheitsdenkens." Und: "Es ist unglaublich lebendig zu lesen, wie Menschen nicht nur über Freiheit nachdenken, sondern Freiheit emanzipatorisch leben - vor allen Dingen auch endlich mal die Frauen."

Redaktionelle Betreuung, Text zur Folge: Johannes Korsche

Produktion und Sounddesign: Justin Patchett

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