Süddeutsche Zeitung

Regenbogen-Debatte:Warum Ungarn keinesfalls nachgibt

Natürlich muss die EU kompromisslos für LGBTQ-Rechte eintreten. Doch im Umgang mit Viktor Orbán sollte sie sich eine andere Strategie überlegen - und dazu vielleicht mal einen Blick in die Geschichte wagen.

Kommentar von Iris Spiegelberger

Die Regenbogenfahnen haben dem Münchner Sturzregen am Mittwochabend standgehalten, und die Stadt ist stolz auf ihr Zeichen, das nicht politisch sein sollte. Leider hat sie dem Adressaten dieser Botschaft für Toleranz und Vielfalt, Ungarns Regierungschef Viktor Orbán, damit einen Gefallen getan.

Konservative ungarische Medien haben die Aktion sehr wohl politisch verstanden. Von Gängelung, gar von einem neuen Kulturimperialismus der Deutschen war zu lesen. Das Problem: Ein erheblicher Teil der 9,8 Millionen Ungarn sieht das ähnlich. Wer aber diese Menschen pauschal als intolerant und homophob bezeichnet, macht es sich zu einfach.

Die Ungarn sind ein homogenes Volk. 2020 lag der Ausländeranteil bei knapp zwei Prozent. Die Mehrheit ist christlich erzogen. Die traditionelle Kernfamilie aus Vater, Mutter und Kind wurde unter Orbán 2013 im Grundgesetz verankert. Im Sozialismus galten Homosexuelle als Systemfeinde, pluralistische Lebensmodelle als Provokation des Westens, die strafrechtlich verfolgt wurde. Zwar wurde bereits 1961 der sexuelle Kontakt zwischen Männern entkriminalisiert, Staatssicherheitsorgane schikanierten Homosexuelle aber noch lange danach. Über sexuelle Orientierung wie über alles Private wurde nur im engsten Kreis der Vertrauten gesprochen.

Viele Ungarn finden, dass die Aufklärung Sache der Eltern ist - nicht der Schule

Das nun verabschiedete Gesetz, das die mediale Darstellung von Homo- und Transsexuellen in Schulbüchern und Werbung einschränkt, empfinden deshalb nicht alle Ungarn als obszön. Viele finden, dass die Aufklärung ins Elternhaus gehört, nicht in den Kindergarten oder ins Fernsehen. Dass viele Eltern "normal" sein eben mit heterosexuell sein gleichsetzen - Orbán dürfte das nicht stören.

Auch geschichtspolitisch spielt die Regenbogen-Debatte dem Regierungschef in die Karten. 45 Jahre Kommunismus stecken den Menschen noch heute in Kopf und Knochen. Auf jede Bevormundung sind sie allergisch. Das gut gemeinte deutsche Bestreben, Flagge zu zeigen, empfinden viele Ungarn als Einmischung in nationale Angelegenheiten. Der Streit um die Sicherung der Schengen-Grenzen während der Flüchtlingskrise oder der ungarische Alleingang bei der Beschaffung des Sputnik-Impfstoffs sind nur zwei Fälle, in denen sich die Ungarn von einer scheinheiligen EU zu Unrecht verurteilt fühlen.

Das Narrativ der ewig Bevormundeten

Viktor Orbán weiß das geschickt zu nutzen. Erst die Mongolen, dann die Türken, Habsburger, Faschisten, Kommunisten und nun Brüssel - das passt perfekt ins Narrativ des ewig Bevormundeten. Der Ministerpräsident weiß, dass ihm nichts besser steht als das Image des Verteidigers der Unabhängigkeit Ungarns. Don't mention the war? Im Gegenteil. Man kann den "brutalen Diktatfrieden" von Trianon, der Ungarn 1920 zwei Drittel seines Staatsgebiets kostete, nicht oft genug erwähnen. Orbán mag im Westen als Puszta-Putin gelten, in den Augen vieler Ungarn gibt er dem Land den Nationalstolz zurück.

Nicht zu vergessen Orbáns Wohltaten: Geringverdiener haben mehr Geld auf dem Konto, seit die Energieversorger eine Nebenkostenobergrenze haben; Banken wurden medienwirksam per Gesetz zur Kasse gebeten; Budapest ist heute eine gepflegtere Stadt als vor 15 Jahren. Das sind spür- und sichtbare Ergebnisse, die die Menschen bei den Wahlen honorieren.

Die Empörung über das "Homosexuellengesetz" wird diesen Mechanismus nicht aushebeln. Die EU wird darauf reagieren müssen - und wäre gut beraten, dabei zweigleisig zu fahren. Natürlich muss sie kompromisslos für LGBTQ+-Rechte eintreten. Sie muss sich aber auch überlegen, wie sie das "Feindbild EU" in Ungarn entkräften kann, von dem Orbán so sehr profitiert. Denn klein beigeben wird er nicht.

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