Liberalismus ist eine der Grundpositionen innerhalb der politischen Philosophie. In seinem Zentrum steht die Freiheit des einzelnen Menschen, frei von geistigen, politischen oder sozialen Zwängen. Liberale Prinzipien wie Rechtsstaatlichkeit oder Menschenrechte sind heute fester Bestand moderner Demokratien. Doch weil der Liberalismus eben keine geschlossene Weltanschauung ist und einige als liberal geltende Vorstellungen teils konträr zueinander stehen, ist das genaue Konzept der Theorie vielen Menschen heute nicht mehr präsent.
Die Philosophin Elif Özmen hat ein viel beachtetes Buch geschrieben, in dem sie die Grundlagen des Liberalismus erklärt. Sie sagt, die Beschäftigung mit Liberalismus sei heute wichtiger denn je, da Einschränkungen von Bürgerrechten und illiberale Demokratien weltweit zunehmen. Im Gespräch mit Carolin Emcke erläutert sie, welche Stärken der Liberalismus als politische Grundhaltung mitbringt – und wo er historisch missverstanden wurde.
Hinweis: Das Gespräch ist am Mittwoch, 23. Oktober, geführt worden.
Özmen, geboren 1974 in Bremen, ist seit 2016 Philosophieprofessorin an der Universität Gießen. Ihre Schwerpunkte liegen auf den Grundlagen der theoretischen Ethik und der politischen Philosophie. In Frankfurt und Göttingen hat sie Philosophie und Wissenschaftsgeschichte studiert und später in Berlin promoviert. Für ihre Habilitation über die politische Philosophie des Liberalismus bekam Özmen den Habilitationspreis der Universitätsgesellschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Eine plurale Gesellschaft setzt Individualismus voraus
Im Gespräch mit Carolin Emcke erzählt Elif Özmen, dass insbesondere John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit ihr Interesse am Liberalismus geweckt habe. Rawls konstruiert Gerechtigkeit als Fairness in einer Gesellschaft, in der die Bürgerinnen und Bürger frei und gleich sind. „Besonders attraktiv war das für mich“, sagt Özmen, „weil hier auch Fragen der sozialen Gerechtigkeit in ganz neuer Art und Weise behandelt wurden.“
In den letzten Jahren sei der Liberalismus allerdings in Verruf geraten. Gerade deshalb empfiehlt Özmen, sich tiefer mit der Theorie zu beschäftigen. „Wie kann das eigentlich sein, dass eine politische Theorie der freiheitlichen Demokratie zum Buhmann für alle möglichen Problemlagen werden kann?“ Diese Dissonanz führt die Philosophin unter anderem darauf zurück, dass das individualistische Menschenbild des Liberalismus häufig missverstanden werde. Es sei bewusst nachlässig gegenüber sozialer Bindungen, weil sein Kern eine „Fiktion oder ein normatives Ideal“ sei. Diese verleugne das soziale Wesen des Menschen nicht, diene aber letztlich als Referenz, um ein Bewusstsein zu vermitteln, „dass ebendiese Bindungen selbst eine Quelle von Unfreiheit sein können.“ Es gehe darum, dass Einzelne frei sein sollen, zu bestimmen, wer sie sind und sein wollen. Dann könne aus der Individualisierung eine plurale Gesellschaft entstehen.
Toleranz als missverstandenes liberales Konzept
Özmen und Emcke diskutieren im Podcast auch über das Konzept der Toleranz, die das Nebeneinander unterschiedlicher Meinungen und Lebensstile in liberalen Gesellschaften ermöglichen soll – aber als solches mitunter auch Unbehagen wecke. Zum einen, weil es eine gegenseitige Ablehnung voraussetzt, die ausgehalten werden müsse. Aber auch, weil unklar ist, wo die Grenzen der Toleranz liegen sollten. Özmen plädiert dafür, Toleranz als „das geringere Übel“ zu betrachten, das den zivilen Frieden sichert.
Die Philosophin sieht im Aushalten anderer Meinungen und Weltanschauungen eine „urliberale Tugend, die vom Staat praktiziert werden muss“, aber die auch Bürgerinnen und Bürger in ihrem Alltag praktizieren sollten. Das heiße aber nicht, dass sie alles aushalten müssen. Immer dann, wenn der zivile Frieden gefährdet werde, wenn etwa aktiv zu Diskriminierung oder Gewalt gegen gewisse Gruppen aufgerufen werde, sei nicht nur eine rechtliche Grenze, sondern eben auch eine Grenze der Toleranz erreicht. Außerdem stellt Özmen klar, dass eine tolerante Gesellschaft Streit und Empörung nicht ausschließe. „Dass ich es aushalte, dass jemand etwas sagen darf, heißt nicht, dass ich ihn nicht in Grund und Boden kritisieren kann.“
Empfehlung von Elif Özmen
Elif Özmen empfiehlt „Comics (1964-2024)“, den Katalog zu einer Ausstellung, die bis zum 4. November im Centre Pompidou in Paris zu sehen war. In dem umfassenden Katalog werden Comics und Graphic Novels aus Frankreich, Belgien, den USA oder Japan präsentiert. Comics als „ästhetische Form der Darstellung“ seien inzwischen als eigenständige Kunstform etabliert. „Wenn man da jetzt reinblättert als Comic-Leserin“, sagt die Philosophin, „dann hat man sehr viel Freude, weil man nun diesen ganzen Reichtum an Bildwelten und Narrativen präsentiert bekommt.“
Moderation, Redaktion: Carolin Emcke
Redaktionelle Betreuung: Ann-Marlen Hoolt, Nadja Schlüter
Produktion: Imanuel Pedersen