Es gibt kaum ein Märchen, das so oft für Interpretationen herhalten musste wie das der Brüder Grimm über Dornröschen - jener schönen, von einer bösen Fee zu 100-jährigem Schlaf verfluchten Prinzessin, die erst von einem Königssohn wachgeküsst wurde. Je nach Standpunkt galt Dornröschen, nur zum Beispiel, als Symbol deutscher Treue oder unterdrückter Libido, der "Großen Mutter" oder homöopathischer Arzneien. Bis heute ist das Kinderlied von 1890 beliebt, in dem es heißt: "Da kam die böse Fee herein, Fee herein, Fee herein, da kam die böse Fee herein und rief ihr zu: / Dornröschen schlafe hundert Jahr, hundert Jahr, hundert Jahr!" Das deutsche Märchen geht auf ein älteres, ziemlich blutrünstiges von Charles Perrault zurück ("Die schlafende Schöne im Wald") und stand 1812 bereits in der ersten Ausgabe der Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm. Sehr hübsch war 1974 die emanzipatorische Variante "Mädchen, pfeif auf den Prinzen" von Josef Reding: "Es bringt dich auch kein Königssohn / vom Kochtopf auf den Herrscherthron ..." Der ukrainische Botschafter in Berlin hat die Bundesregierung jetzt aufgerufen, angesichts der Bedrohung seines Landes durch Russland "aus ihrem Dornröschenschlaf zu erwachen". Dazu bedürfte es freilich des besagten Prinzen, der in der Ukraine-Krise offenkundig noch nicht erschienen ist. Sicher ist nur: Es wird nicht Gerhard Schröder sein.
Aktuelles Lexikon:Dornröschenschlaf
Sehr tiefer Schlummer, wie ihn der Botschafter der Ukraine der Bundesregierung unterstellt und bei dem das Erwachen einen schönen Prinzen erfordert.
Von Joachim Käppner
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